In dieser Reihe möchten wir fortlaufend Personen vorstellen, die an unserer mittlerweile über 600 Jahren bestehenden Fakultät gearbeitet sowie gelehrt haben.
Nr. 1: Willibalt Apelt (1877 – 1965)
Der im Jahr 1877 in Löbau geborene Staatsrechtslehrer Apelt war seit 1920 Professor an der Universität Leipzig und hielt Vorlesungen über Deutsches Verwaltungsrecht sowie Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht. Zudem begründete er erstmals in Leipzig das Institut für Steuerrecht und war von 1930 bis 1932 Dekan der Juristenfakultät. Kennzeichnend für ihn als Hochschuldozent war, wie er auch selbst in seiner Autobiographie „Jurist im Wandel der Staatsformen“ erwähnt, seine vorherige außeruniversitäre praktische Betätigung. In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg arbeitete er als Referent im sächsischen Kulturministerium und setzte sich hier insbesondere für die noch fehlende staatliche Gymnasialbildung für Mädchen ein. Im ersten Weltkrieg erhielt er die heute kurios erscheinende Aufgabe im Reichsamt des Inneren, die Annexion des besetzten Litauen an das Königreich Sachsen vorzubereiten. Zu seinen lesenswertesten Schriften zählt unter anderem die „Geschichte der Weimarer Verfassung“, die er nach seiner unfreiwilligen Pensionierung durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933 anzufertigen begann. Für ihn ein persönliches Anliegen, war er doch selbst als Mitarbeiter von Hugo Preuß am Verfassungsentwurf für die Weimarer Republik beteiligt gewesen. Seine verfassungshistorische Analysefähigkeit zeigt sich auch in dem im Jahr 1949 erschienenen Aufsatz „Betrachtungen zum Bonner Grundsatz“, der hier kurz eingehender zu beleuchten sei.
In seiner Kritik bezog er sich beispielsweise auf den Art. 93 GG, welcher die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts regelt. In ihm prognostizierte er nicht einmal einen Monat nach Inkrafttreten des Grundgesetzes die Grundlage eine Machtverschiebung:
„Die höchste Repräsentation der volonté générale als der Volksouveränität ist also nicht mehr die gewählte Volksvertretung, sondern ein kleines Richtergremium, und da es sich in bezeichneten Fällen überwiegend um Fragen politischen oder ethischen Inhalts, nicht um Rechtsstreitigkeiten handeln wird – z.B. ob ein Bundesgesetz die Würde des Menschen nicht hinreichend achtet -, so wird der Rechtsprechung die Entscheidung von Streitfällen übertragen, die nicht justitiabel sind.“
Er kritisierte somit die der Justiz von dem Grundgesetz zugeschobene Rolle. Zwar solle sie in der Lage sein, das Parlament zu kontrollieren, doch nicht um den Preis, dass sie selbst letzte Instanz werde und somit die politischen Entscheidungen anstelle des Parlaments treffe. Ein Gedanke, der schon früh gewisse Entwicklungen erahnte und das Spannungsfeld zwischen politischer und richterlicher Entscheidung, in der sich das Karlsruher Gericht stets befindet, erkannte.
Der Jurist und Schriftsteller Bernhard Schlink prägte daran anknüpfend den Begriff des „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“. Die weite Auslegbarkeit der Verfassung benötige Grenzsetzungen. Diese könnten nur durch das Verfassungsgericht erfolgen, das dadurch gleichfalls an maximaler Autorität gewinne. Schlink weist dem Gericht auch die Entscheidung über „politische Machtfragen“ zu. Er betont aber dessen Abhängigkeit von der gesellschaftlichen, politischen und behördlichen Akzeptanz mangels fehlender sonstiger Machtmittel. Die Folge sei, dass das Gericht eher dazu neige „billige, politische akzeptable, die Parteien befriedende“ Urteile zu fällen und dadurch Dogmatik und Methodik in den Hintergrund rücken lasse. Apelt, der die Problematik von Schlink vorhersah, forderte dahingehend, dass das Bundesverfassungsgericht keine Autorität genießen dürfe, wenn „es sich in Wirklichkeit um politische Machtkämpfe handelt, und die Verfassung ermöglicht, sie als Rechtsstreitigkeiten zu tarnen“. Auch die Möglichkeit eines jedermanns, Verfassungsbeschwerde zu erheben, sah Apelt unter zwei Gesichtspunkten kritisch. Erstens sei die Möglichkeit der Nichtigerklärung eines Gesetzes durch das Gericht infolge einer Beschwerde eines einzelnen Bürgers eine „Schwächung der Autorität des Gesetzgebers“. Denn aus der Sicht Apelts verkörpert der Bundestag den Volkswillen, der eben nicht als Totalitarismus gegen den einzelnen Bürger aufzufassen sei. Vielmehr sei er als Ausfluss und Ausdruck eines demokratischen Rechtsstaats nach der verfassungsmäßigen Ordnung einzustufen. Zweitens sehe sich das Gericht zudem einer Unzahl von unbegründeten Beschwerden von „Querulanten“ ausgesetzt.
Apelts Verdacht kann in Teilen bestätigt werden, erkannte er doch die Thematik der Streitfälle, die zukünftig das Bundesverfassungsgericht zu erwarten hatte. Als Beleg dafür sei auszugsweise auf die jüngsten Urteile zur Sterbehilfe, zum Klimaschutzgesetz oder der festgestellten Kompetenzüberschreitung der Europäischen Zentralbank verwiesen. Keines der Themen kann rein juristisch betrachtet werden, ohne die politische Diskussion auszublenden.
Apelt fokussierte sich insbesondere auf einen Artikel in seiner Prognose: Den (heute kaum beachteten) Art. 15 GG. Dessen Satz 1 besagt: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ Durch diese Vorgabe der Verfassung sei laut Apelt „die Umgestaltung des kapitalistischen Wirtschaftssystems durch tiefgreifende Maßnahmen zwar noch nicht angeordnet, aber doch der künftigen Bundeslegislative nahegelegt“.
Naja. Unter der Kanzlerschaft Adenauers und des Wirtschaftsministers Erhards wurde diese „Nahelegung“ des Art. 15 GG nicht aufgegriffen. Bis heute erfuhr er keine praktische Umsetzung und wird in der Literatur einstweilen auch als „Freiheitsrecht auf Nichtsozialisierung“ gelesen. Einen heutigen Beleg für die stiefmütterliche Behandlung des Sozialisierungsartikels zeigen die kontroversen Debatten um die Berliner Bürgerinitiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“. Sie fordert die Vergesellschaftung und Enteignung von privaten Immobilienunternehmen, die mehr als 3.000 Berliner Wohnungen in ihren Beständen aufweisen. Der entsprechende Volksentscheid wurde am 26.09.2021 von ca. 59 % der Berliner Wählerinnen und Wähler angenommen. Ob und wie der Berliner Senat und die neue Bürgermeistern Franziska Giffey diesen Forderungen nachkommen wird, ist noch offen. Zwar möchte sie mit dem Volksentscheid „verantwortungsvoll und respektvoll umgehen“, aber zeitgleich auch die „rechtlichen Rahmenbedingungen“ sowie die „Verfassungsgemäßheit“ prüfen. Eine Frage, die letztlich in ihrer politischen und rechtlichen Bedeutsamkeit wieder vor dem Bundesverfassungsgericht landen wird. Willibalt Apelt als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei (ein Vorgänger der heutigen FDP) und ihr Mitbegründer in Sachsen hätte der Umsetzung des Volksentscheides sicher kritisch gegenübergestanden.
Ab 1946 lehrte er bis ins hohe Alter von 77 Jahren das öffentliche Recht an der juristischen Fakultät in München. Er starb 1965 im Alter von 87 Jahren in Gräfelfing bei München, wo er sich zur Ruhe gesetzt hatte.
Paul Schüller
Literatur:
Willibalt Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 1946 München.
Willibalt Apelt, Jurist im Wandel der Staatsformen, 1965 Tübingen.
Willibalt Apelt, Betrachtungen zum Bonner Grundgesetz, NJW 1949, 481.
Bernhard Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 1989, 161.
Bildquelle: aus Willibalt Apelt, Jurist im Wandel der Staatsformen,
1965 Tübingen. Mit freundlicher Genehmigung des Mohr Siebeck Verlags.
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