Interview mit Prof. Degenhart zum PSPP-Urteil des BVerfG

Kompetenz und Verhältnismäßigkeit, EuGH und BVerfG

Interview mit Professor Emeritus Christoph Degenhart zum PSPP-Urteil des BVerfG

Am 05.05.2020 erklärte das Bundesverfassungsgericht das Public Sector Purchase Programme (PSPP) der EZB, trotz entgegenstehenden Urteils des EuGHs, für kompetenz- und damit verfassungswidrig. Die Beschwerdeführer sahen im PSPP eine wirtschaftspolitische Maßnahme, welche nicht vom Mandat der EZB gedeckt sei und kompetenziell dem Bundestag zustünde. Dadurch, dass die EZB dort agierte, wo nur der Bundestag es tun dürfte, sahen sie sich in ihrem subjektiven Recht auf Demokratie aus Art. 38 Abs. 1 und 2 GG verletzt. Das BVerfG gab ihnen Recht und stützte seine Begründung der fehlenden Kompetenz der EZB auf eine mangelnde Verhältnismäßigkeitsprüfung dieser. Das BVerfG ermöglichte der EZB aber auch explizit die Kompetenz nachträglich durch Vornahme einer umfassenden Verhältnismäßigkeitsprüfung wiederherzustellen. Das Urteil hat eine enorme Welle an Reaktionen hervorgerufen. Dies liegt zum einen daran, dass das PSPP und ähnliche Programme der EZB nach herrschender Ansicht in der VWL essenziell für den Zusammenhalt der Eurozone waren und es auch wohl noch sind und daher reell viel auf dem Spiel steht. Zum anderen hat das Urteil fundamentalste Fragen der Staatsorganisation eines durch seine Verfassung gebundenen Mitgliedstaates in einer Staatengemeinschaft, welche faktisch immer staatsähnlicher anmutet, ohne jedoch selbst Souverän zu sein (oder etwa doch?), aufgeworfen. Die kleine Advokatin hat daher zum Telefon gegriffen, um mit dem Prozessvertreter der primären Beschwerdeführer in diesem Verfahren zu sprechen, dem Vorgänger von Prof. Dr. Gersdorf auf dem Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Medienrecht: Prof. Dr. Christoph Degenhart.

DkA: Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Degenhart, erstmal herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Erfolg vor dem Bundesverfassungsgericht. Können Sie uns kurz erklären wie es zu dem Verfahren kam?

Prof. Degenhart: Die Beschwerdeführer – eine Gruppe mittelständischer Unternehmer – sahen in der Politik der europäischen Zentralbank eine unvertretbare Ausweitung des Mandats der EZB und eine daraus resultierende, sehr gefährliche wirtschaftliche Entwicklung. Sie haben mich mandatiert, um ihre Rechte vor dem Bundesverfassungsgericht geltend zu machen.

DkA: Das Urteil hat ziemlich hohe Wellen geschlagen. Zum Beispiel wurde seitens der Politik viel Kritik laut und auf dem Verfassungsblog wurde einen Monat lang fast nichts anderes mehr als Kritisches zu dem Urteil publiziert. Wie bewerten Sie die Reaktionen?

Prof. Degenhart: Selbstverständlich muss sich auch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts der öffentlichen Kritik und Diskussion aussetzen. In diesem Fall allerdings sind die Äußerungen teilweise, vor allem aus der Politik, aber auch aus der Rechtswissenschaft – wenn Sie den Verfassungsblog als Rechtswissenschaft bezeichnen wollen (lacht) – doch weit über das Ziel hinaus geschossen und lassen die Achtung vor dem Gericht vermissen. Ich denke dabei insbesondere an die polemischen Äußerungen Frau von der Leyens und auch an andere Äußerungen aus der Politik, mit denen dem Bundesverfassungsgericht vorgeworfen worden ist, es wolle Europa oder die EU zerstören.

DkA: Über den Verfassungsblog als Medium lässt sich sicher streiten. Allerdings haben dort einige Professoren sehr kritisch über das Urteil publiziert. Ist diese Kritik dann nicht Kraft der Lehrstuhlinhaberschaft eine „rechtswissenschaftliche“ und als solche ernst zu nehmen?

Prof. Degenhart: Als Lehrstuhlinhaber sind sie natürlich ernst zu nehmen. Hans Hugo Klein, ein ehemaliger Verfassungsrichter mit dem ich mich über das Urteil austauschen konnte, führt die Reaktionen zum Teil zurück auf die Enttäuschung, beziehungsweise Irritation der berufsmäßigen Europarechtler darüber, dass die EU eben – anders als sie stets behaupten – noch kein Staat ist. Viele Europarechtler pflegen übrigens ein „Freund-Feind-Denken“, welches ich nicht nachvollziehen kann. Wenn man der Meinung ist, dass die EU an einer Stelle ihre Kompetenzen überschritten hat, ist man deswegen kein Europagegner. Genauso wie man kein Deutschlandgegner wäre, wenn man irgendwo eine Kompetenzüberschreitung des Bundes zulasten der Länder feststellen würde.

DkA: Vielleicht wäre es sachdienlich, zwei Komplexe voneinander zu trennen: Die hier vordergründige Frage nach den Kompetenzgrenzen der EZB und die dahinterstehende staatsorganisationsrechtliche Frage nach der Ultra-Vires-Doktrin des BVerfG und der Verortung der Kompetenz-Kompetenz. Beginnen wir mit ersterem: In Ihrem letzten Schriftsatz vom 30.01.2019 (einsehbar unter christoph-degenhart.com) haben Sie argumentiert, dass das PSPP der EZB sowohl kompetenzwidrig wie auch unverhältnismäßig sei. Das BVerfG hat diese Argumente kombiniert und die Kompetenzwidrigkeit aufgrund mangelnder Verhältnismäßigkeit – beziehungsweise mangelnder Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit durch EZB (und EuGH) – festgestellt. Hat Sie das überrascht? Was halten Sie von der Anwendung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Bestimmung von Kompetenzen?

Prof. Degenhart: Hier muss man die Entwicklung der Rechtsprechung sehen. Im Vorlagebeschluss an den EuGH sagte das Bundesverfassungsgericht, dass sehr starke Indizien darauf hindeuten würden, dass es sich um Wirtschafts- und nicht Währungspolitik handele. Jetzt in dem Urteil nach dem Vorabentscheidungsverfahren meint das Bundesverfassungsgericht, dass Wirtschafts- und Währungspolitik nicht immer klar voneinander zu trennen sind. Es müssten aber jedenfalls bei währungspolitischen Maßnahmen auch die wirtschaftspolitischen Auswirkungen bedacht werden, und wenn diese unverhältnismäßig sind, würde sich die Waage sozusagen eher in Richtung Wirtschaftspolitik senken. Das Bundesverfassungsgericht hat also in der Tat die Frage der Kompetenzabgrenzung mit der Frage der Verhältnismäßigkeit verbunden. Ich halte das auch für richtig so. Wir bejahten Wirtschaftspolitik nur schon von sich heraus und hielten die Maßnahmen zusätzlich und jedenfalls für unverhältnismäßig. Im Übrigen kennt man diese Verknüpfung von Verhältnismäßigkeit und Kompetenzabgrenzung auch aus Art. 72 Abs. 2 GG. Auch der EuGH geht so vor, was das Bundesverfassungsgericht akribisch nachweist.

DkA: Wieso wurden bei den Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts zur Verhältnismäßigkeit nur negative wirtschaftspolitische Folgen berücksichtigt? Müsste man nicht auch etwaige positive wirtschaftspolitische Folgen in die Abwägung einstellen?

Prof. Degenhart: Die positiven wirtschaftspolitischen Folgen hat der EZB-Rat bereits in seinen Beschlüssen dargelegt. Es geht hier um eine Eingriffsmaßnahme und darum, dass der EZB-Rat hierbei speziell diese negativen Konsequenzen nicht berücksichtigt hat. Es geht also um einen massiven Abwägungsausfall dahingehend, dass negative Konsequenzen nicht mitbedacht wurden.

DkA: Könnte beziehungsweise müsste man, wenn man die Kompetenzfeststellung mittels Verhältnismäßigkeitsprüfung ernst nimmt, nicht aber konsequenterweise jede wirtschaftspolitische Folge – egal ob positiv oder negativ – dergestalt in die Abwägung einstellen, dass sie dazu führt, dass sich das Gleichgewicht hin zur Wirtschafts- und weg von der Währungspolitik verschiebt? Wäre nicht auch eine positive wirtschaftspolitische Folge kraft Ihrer wirtschaftspolitischen Natur nicht mehr vom legitimen Ziel der Währungspolitik gedeckt und würde so zur Kompetenzwidrigkeit beitragen?

Prof. Degenhart: Die positiven wirtschaftspolitischen Folgen, also die Stimulierung der Wirtschaft durch die lockere Währungspolitik, sind vom währungspolitischen Mandat gedeckt und insoweit dann auch bereits berücksichtigt. Währungspolitik dient immer der Unterstützung von Wirtschaftspolitik. Die Wirtschaft durch Instrumente der Währungspolitik (Nullzins, Anleihenkauf) zu stimulieren, ist klassische Aufgabe einer Zentralbank. Soweit die wirtschaftspolitischen Folgen also klassische Folgen der Währungspolitik sind, unterminieren diese nicht den währungspolitischen Charakter einer Maßnahme und sind insofern kompetenzrechtlich unproblematisch. Problematisch sind eben nur die massiven wirtschaftspolitischen Kollateralschäden, die in diesem Fall eben zu schwerwiegend waren.

DkA: Einige Stimmen haben gesagt, dass diese Trennung von Wirtschafts- und Währungspolitik überhaupt nicht vollziehbar wäre und somit diesbezüglich schon prinzipiell keine Kompetenzüberschreitung der EZB festgestellt werden könne.

Prof. Degenhart: Diese Abgrenzung ist in der Tat komplex. Es ist aber nicht die Aufgabe des Gerichts zu sagen: „Wir wissen nicht genau wie es geht, also lassen wir alles zu.“ Das Mandat der EZB ist eben nur ein Währungspolitisches.

DkA: Gleich der EZB ist auch das Mandat der Bundesbank auf Währungspolitik beschränkt. Auch die Bundesbank hat schon erhebliche wirtschaftspolitische Folgen durch die von Ihr betriebene Währungspolitik verursacht. Man denke an die kompromisslose Bekämpfung der Inflation in den 70er Jahren. Das deutliche Erhöhen des Leitzinses hat damals zu einem großen Mehr an Arbeitslosigkeit geführt. Muss jetzt rückblickend festgestellt werden, dass dies – mangels Verhältnismäßigkeitserwägung der Bundesbank bezüglich der wirtschaftspolitischen Folgen ihres Handelns – kompetenzwidrig zu Lasten des Bundestages war und so die Bürger in Ihrem subjektiven Recht auf Demokratie aus Art. 38 Abs. 1 und 2 GG verletzt hat?

Prof. Degenhart: Nein. Die Festsetzung des Leitzinses ist eine klassische Aufgabe der Währungspolitik und als solche immer vom Mandat gedeckt.

DkA: Also musste die EZB in diesem Fall eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nur vornehmen, weil sie sich eines unorthodoxen Instruments bedient hat?

Prof. Degenhart: Ganz genau. So war es ja auch schon im OMT-Verfahren.

DkA: Das BVerfG hatte eine Frist bis zum 5. August gesetzt bis zu welchem die EZB die Verhältnismäßigkeit darzulegen hatte. Bei Ausbleiben einer Begründung der Verhältnismäßigkeit des PSPP durch die EZB hätte die Bundesbank nach Ablauf der Frist nicht mehr am PSPP teilnehmen dürfen. Die Frist ist nun abgelaufen. Die EZB hat eine Begründung abgegeben und Bundestag, Bundesregierung und Bundesbank halten diese für den Anforderungen des Urteils genügend. Die Bundesbank nimmt weiterhin am PSPP teil. Wie ist Ihre Einschätzung zu der von der EZB abgegeben Begründung?

Prof. Degenhart: Ich habe sowohl die Erklärung der EZB wie auch ihre Beschlüsse gelesen und sehe hierin eine krasse Missachtung des Gerichts. Ich beobachte ein Zusammenwirken von EZB, Bundesbank, Bundestag und Bundesregierung mit dem Ziel die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auszuhebeln. Die EZB hat nicht den Ansatz einer vernünftigen Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen. Sie hat nicht mal den Beschluss gefasst, den das Bundesverfassungsgericht gefordert hat – ein neuer Beschluss, in welchem die Verhältnismäßigkeit festgestellt werden muss. Der Bericht einer Sitzung des EZB-Rats vom 3. und 4. Juni 2020 gibt eine Diskussion wieder, in welcher mehr oder weniger die altbekannten Floskeln wiederholt wurden und keine ernsthafte Diskussion stattgefunden hat. Daraufhin wurde ein Beschluss gefasst das Programm fortzusetzen und auch noch zu erweitern. In dem Beschluss selbst ist von der Verhältnismäßigkeit keine Rede. Insofern fehlt es meines Erachtens schon an den formellen Voraussetzungen.

Ein weiterer Punkt ist, dass der Bericht mit einigen Dokumenten dem Bundestag zugeleitet worden ist. Die Dokumente sind wenig aussagekräftig. Unter anderem beruft sich die EZB auf Stellungnahmen, die sie schon im Gerichtsverfahren abgegeben hat. Wenn diese aber das Bundesverfassungsgericht seinerzeit nicht überzeugen konnten, ist schwer einsehbar warum sie jetzt plausibel eine ausreichende Verhältnismäßigkeitsprüfung darlegen sollten. Und schließlich: Der Bundestag hat in einer dreißigminütigen Sitzung kurz festgestellt, dass das alles in Ordnung geht. Hierbei waren allerdings einige der Dokumente, die die EZB vorgelegt hat unter Verschluss und gar nicht einsehbar. Meines Erachtens ist diese vorgenommene Verhältnismäßigkeitsprüfung eine Farce. EZB, Bundesbank, Bundestag und Bundesregierung haben hier wie gesagt ein Zusammenspiel betrieben, um die Bedeutung der Verfassungsgerichtsentscheidung möglichst klein zu halten.

DkA: Könnte durch die Billigung des Bundestags nicht die Verletzung des subjektiven Rechts auf Demokratie aus Art. 38 Abs. 1 und 2 GG – hierauf stützen sich ja die Beschwerdeführer – sozusagen geheilt worden sein?

Prof. Degenhart: Diese Frage ist durchaus plausibel. Nur wenn man das Urteil liest, ist hier der EZB-Rat in der Pflicht, eine entsprechende Abwägung vorzunehmen und meines Erachtens ist die Tatsache, dass der Bundestag die Abwägung billigt, nicht konstitutiv – bedeutet also nicht, dass sie tatsächlich den Anforderungen aus dem Urteil genügen würde.

DkA: Könnte der Bundestag entweder weitere, für das PSPP nötige, Kompetenzen auf die EZB übertragen oder in Ausübung seiner Kompetenz die EZB zur Ausführung des PSPP beauftragen?

Prof. Degenhart: Das ist meines Erachtens nach geltendem Recht nicht möglich, schon weil der Bundestag der EZB keine Aufträge erteilen kann.

DkA: Aus europarechtlicher Perspektive kann der Bundestag die EZB natürlich nicht beauftragen. Aber ist das denn für die deutsche verfassungsrechtliche Perspektive relevant?

Prof. Degenhart: Ich denke ja. Auch nach deutschem Verfassungsrecht könnte der Bundestag höchstens eine Adresse an die Bundesbank, die deutschem Verfassungsrecht unterliegt, richten. Aber auch einer solchen stünde deren Unabhängigkeit entgegen.

DkA: Und eine Bitte des Bundestags an die EZB, welcher dann glücklicherweise entsprochen wird?

Prof. Degenhart: Auch das würde die demokratische Legitimation nicht herstellen.

DkA: Was werden jetzt Ihre weiteren Schritte im Verfahren sein?

Prof. Degenhart: Meine Mandanten sehen ihr Prozessziel erreicht und wollen deshalb nicht weiter machen. Wohl auch deshalb, weil sie hier keine allzu großen Chancen sehen. Denn in der Tat wird das Bundesverfassungsgericht vermutlich sehr zögern, hier einen Schritt weiter zu gehen und das Urteil zu vollstrecken. Die beiden anderen Beschwerdeführer haben eine Vollstreckungsanordnung beantragt.

DkA: Warum denken Sie, dass das Bundesverfassungsgericht zögern wird, das Urteil zu vollstrecken?

Prof. Degenhart: Zuerst sollte gesagt sein, dass „vollstrecken“ hier ein etwas problematischer Begriff ist. Natürlich kann das Bundesverfassungsgericht nicht zwangsvollstrecken, wie wir es aus dem Prozessrecht kennen. Es könnte aber eine an die deutsche Bundesbank gerichtete Verpflichtung aussprechen. In Randziffer 235 des Urteils untersagt das Gericht der Bundesbank, nach einer Übergangsfrist von drei Monaten am PSPP teilzunehmen, solange der EZB-Rat bis dahin keinen Beschluss gefällt hat, in welchem er die Verhältnismäßigkeit schlüssig darlegt. Meines Erachtens müsste das Gericht jetzt feststellen, dass dies nicht geschehen ist und entsprechend der Bundesbank die weitere Teilnahme am PSPP untersagen. Ich habe allerdings meine Zweifel, ob das Gericht den Konflikt hier so auf die Spitze treiben möchte, zumal sich auch die neue Richterin Astrid Wallrabenstein in einem Interview in diese Richtung geäußert hat, was ich übrigens nicht für unbedenklich halte.

DkA: Sie sagen, das Prozessziel Ihrer Mandanten wurde erreicht. Das PSPP wird allerdings weiterhin ausgeführt. War es nicht das Prozessziel Ihrer Mandanten, dieses zu Fall zu bringen?

Prof. Degenhart: Natürlich wäre es uns noch lieber gewesen, wenn das BVerfG die weiterführende Entscheidung getroffen hätte und der Bundesbank unmittelbar verboten hätte, weiterhin am PSPP teilzunehmen. Wir haben aber erreicht, dass festgestellt wurde, dass auch der EuGH sich dem Urteil des BVerfG stellen muss, dass auch Urteile des EuGH Ultra-Vires-Akte darstellen können und dass die EZB zukünftig ihre Schritte sehr viel sorgfältiger wird begründen müssen. Schließlich sehen wir einen maßgeblichen Erfolg auch dort, wo das Urteil unsere Auffassung eigentlich nicht teilt, nämlich bei der Frage nach der Verletzung des Verbots der monetären Staatsfinanzierung (wobei die meisten Ökonomen in dem Anleihenkauf eine monetäre Staatsfinanzierung sehen – also unserer Auffassung sind). Hier hat das Gericht gesagt, dass es gerade noch so geht, weil bestimmte Kriterien eingehalten worden sind. Es hat damit aber eben auch sehr klare Kriterien dafür entwickelt, was diesbezüglich geht und was nicht geht. Hier hat das Urteil meines Erachtens doch deutliche Schranken gesetzt und man muss ehrlicherweise sagen, dass wenn wir diese Kriterien jetzt auf das PEPP (Pandemic Emergency Purchase Programme – Anm. d. Redaktion) anwenden würden, dieses als unzulässige monetäre Staatsfinanzierung zu qualifizieren wäre. Ob man hierbei allerdings irgendeine Notkompetenz aus den Verträgen herauslesen könnte, will ich mal offen lassen.

DkA: EuGH-Entscheidungen als Ultra-Vires-Akte bringen uns zum zweiten Fragenkomplex: Herr Professor, wie haben Sie‘s mit der Kompetenz-Kompetenz? Wo liegt sie?

Prof. Degenhart: (lacht) Gute Frage. Das ist meines Erachtens recht eindeutig geregelt: Es gilt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Damit liegt die Kompetenz-Kompetenz nicht bei der Europäischen Union, sondern nach wie vor bei den Mitgliedsstaaten, die ja, wie das Bundesverfassungsgericht so schön sagt, die Herren der Verträge sind.

DkA: Warum genau gilt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung?

Prof. Degenhart: Zum einen ist es im EUV ausdrücklich festgehalten und gilt daher zunächst europarechtlich. Zum anderen gilt es auch qua Verfassungsrecht, denn der deutsche Gesetzgeber darf zwar Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen, er darf aber nicht einen Blankoscheck ausstellen. Er darf der EU keine Generalermächtigung erteilen, von sich aus Kompetenzen an sich zu ziehen.

DkA: Was wäre, wenn die Verträge insoweit abgeändert werden würden, dass sie der EU eine Kompetenz-Kompetenz verleihen?

Prof. Degenhart: Ich denke die Bundesrepublik dürfte einer solchen Vertragsänderung nicht zustimmen.

DkA: Wenn Sie sich hier in letzter Konsequenz auf das Grundgesetz stützen, um die Kompetenz-Kompetenz zu verorten, gehen Sie damit implizit davon aus, dass es dem Grundgesetzgeber zusteht, die Kompetenz-Kompetenz zu verteilen, er also Inhaber einer Art „Kompetenz-Kompetenz-Kompetenz“ ist?

Prof. Degenhart: Von „Kompetenz-Kompetenz-Kompetenz“ sollte man meines Erachtens nicht sprechen, das macht es zu kompliziert. Und nein, dies steht dem verfassungsändernden Gesetzgeber nicht zu, das wurde schon im Lissabon-Urteil eindeutig festgestellt und davon wurde nie abgerückt. Es wäre allerdings natürlich möglich, im Zuge der europäischen Integration das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung aufzugeben. Dies ist aber nicht im Rahmen der geltenden Verfassung möglich, hier wäre dann die verfassungsgebende Gewalt gefragt, also der Souverän.

DkA: Zuständig für die Verortung der Kompetenz-Kompetenz ist also, in den Begriffen Ihres Lehrbuchs, nur die povoir constituant und nicht die povoir constitué?

Prof. Degenhart: Genau. Das sind gängige Ausdrücke für verfassungsgebende und verfasste Gewalt. Es gibt übrigens einige, die es bestreiten, aber ich bin der Auffassung, dass hier im Wege des Plebiszits entschieden werden müsste.

DkA: Woraus ergibt sich das Recht der verfassungsgebenden Gewalt, das Grundgesetz durch eine neue Verfassung zu ersetzen? Beruht dies auf Art. 146 und 20 Abs. 2 GG oder ist dies ein naturrechtlicher Grundsatz?

Prof. Degenhart: Es beruht auf den genannten Grundgesetznormen, ich bin kein Naturrechtler.

DkA: In Ihrem Lehrbuch zum Staatsorganisationsrecht schreiben Sie allerdings unter Randnummer 18/19, dass Art. 146 GG nur Ausdruck einer „an sich selbstverständlichen Tatsache“ wäre. Wenn der Grundsatz also ohnehin gilt, worauf basiert diese Geltung, wenn nicht auf Naturrecht?

Prof. Degenhart: Ja gut (lacht), wenn ich etwas nicht begründen muss… Ich arbeite allerdings wie gesagt nicht mit dem Begriff des Naturrechts. Es folgt außerdem noch aus dem Demokratieprinzip, dass ein Volk – und nur das Volk – sich auf demokratische Weise eine Verfassung geben kann.

DkA: Es ist also der Souverän, der die Verfassung legitimiert und nicht die Verfassung, die durch ihre positiven Normen den Souverän als solchen erst schafft?

Prof. Degenhart: Genau.

DkA: Kommen wir zurück zur Kompetenz-Kompetenz. Warum genau darf der Grundgesetzgeber (und damit die verfasste Gewalt) diese nicht übertragen? Ist die Verortung der Kompetenz-Kompetenz auf bundesdeutscher Ebene von der Ewigkeitsgarantie gedeckt?

Prof. Degenhart: Ja.

DkA: Art. 38 Abs. 1 GG verortet das Legislativorgan auf bundesdeutscher Ebene, ist von der Ewigkeitsgarantie jedoch nicht umfasst. Art. 20 Abs. 2 GG besagt doch eigentlich nur, dass alle Staatsgewalt vom Volke auszugehen hat. Wieso könnte Art. 20 Abs. 2 GG nicht auch durch ein hypothetisches europäisches Legislativorgan befriedigt werden, vorausgesetzt die Wahl zu diesem genügt dem Demokratieprinzip?

Prof. Degenhart: Hier ist das Lissabon-Urteil ziemlich eindeutig. Letztlich muss garantiert sein, dass Staatsgewalt, die in Deutschland ausgeübt wird, demokratisch legitimiert ist und auf eine Entscheidung des Souveräns – dem Träger der staatlichen Gewalt – zurückgeführt werden kann.

DkA: Und das wäre nicht der Fall, wenn das europäische Volk in Wahlen ein europäisches Legislativorgan legitimiert?

Prof. Degenhart: Nein, das europäische Volk ist nicht Volk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG. Gemeint ist das Staatsvolk.

DkA: Unter Europarechtswissenschaftlern nennt man diese Verortung der Kompetenz-Kompetenz „nationalen Monismus“. Einige Europarechtswissenschaftler, zumindest diejenigen, die auf das Urteil lautstark reagiert haben – Prof. Mayer, Uni Bielefeld; Prof. Herrmann, Uni Passau; Prof. Kämmerer, Bucerius Law School; um nur ein paar zu nennen – scheinen konstitutionelle Pluralisten oder sogar EU-Monisten zu sein. Können Sie kurz erklären was damit gemeint ist?

Prof. Degenhart: Offen gestanden verstehe ich das auch nicht so recht (lacht). Aber EU-Monismus meint natürlich, was auch der EuGH behauptet, dass die Hoheitsgewalt der Europäischen Union eigenständig ist, das heißt Legitimation aus sich heraus erhält. Die Europäische Union hat ihre Hoheitsgewalt aber übertragen von den Mitgliedsstaaten erhalten. Woher soll sie sonst kommen?

DkA: Vertreter des konstitutionellen Pluralismus – etwa Prof. Mayer oder Maximilian Steinbeis, der Betreiber des Verfassungsblogs – scheinen Eindeutigkeit und Ordnung im Staatsorganisationsrecht für etwas Schlechtes zu halten. Sie reden von einer „produktiven Ambiguität“ des konstitutionellen Pluralismus. Was ist so schlimm daran, wenn die Frage nach der Verortung der Kompetenz-Kompetenz offen bleibt? Warum braucht das Staatsorganisationsrecht überhaupt eine so rigide Ordnung und Klarheit?

Prof. Degenhart: Weil das Staatsorganisationsrecht auf klare Zuständigkeiten und Abgrenzungen angewiesen ist. Auch der Bürger hat ein Recht darauf, dass ihm gegenüber genau festgelegt wird, wer welche Befugnisse hat. Was genau an einer diesbezüglichen Ambiguität produktiv sein soll, sollten Sie die Verwender dieses Begriffs fragen.

DkA: Ist das oft beschworene Kooperationsverhältnis zwischen EuGH und BVerfG nicht auch Ausdruck von – oder Beweis für – eine gewisse Ambiguität?

Prof. Degenhart: Das ist richtig, ja.

DkA: Ist dieses Verhältnis dann insofern nicht schlecht?

Prof. Degenhart: Was das Verhältnis der Gerichte untereinander angeht, so lässt sich feststellen, dass der EuGH zwar behauptet, er hätte in allem das letzte Wort, das BVerfG dies aber bestreitet. Es gibt jedoch immer wieder sehr vernünftige Zusammenspiele der beiden Gerichte, so etwa jüngst beim Recht auf Vergessen II. Hier hat das BVerfG ein Umsetzungsgesetz ohne Umsetzungsspielraum – also umfassend europarechtlich determiniertes Recht – am Maßstab der Grundrechte-Charta geprüft. Das bedeutet aber wiederum, dass das BVerfG hier ganz dezidiert seinen Machtanspruch anmeldet.

DkA: Ein spannendes Urteil. Finden Sie es richtig, dass das BVerfG jetzt selbst genuines Europarecht prüft?

Prof. Degenhart: Das BVerfG prüft das Recht nicht, soweit es um seine Auslegung geht. Es wendet es nur an. Sollten Auslegungsfragen entstehen, hat es sich das BVerfG offen gehalten, dann an den EuGH vorzulegen. Das BVerfG hält sich hier an die Rechtsprechung des EuGH.

Man kann hier also sehen, dass das BVerfG ganz grundsätzlich die Entscheidungen des EuGH akzeptiert. Warum werden die Entscheidungen akzeptiert? Nicht weil der EuGH aus sich heraus Zuständigkeiten hätte, sondern weil die entsprechenden Entscheidungszuständigkeiten übertragen worden sind.

DkA: Kommen wir zum Schluss noch einmal auf das PSPP-Urteil zurück. Gegen dieses sind, auch aus der Rechtswissenschaft, vielfach politische Argumente ins Feld geführt worden. Das geht von spezifischen Vorwürfen wie, dass die Währungsunion destabilisiert werde, oder dass die Ultra-Vires-Doktrin den Autokraten in Warschau und Budapest in die Hände spiele, bis eben zum sehr Allgemeinen, dass es irgendwie europafeindlich sei und das nicht sein dürfe. Haben solche Erwägungen rechtliche Relevanz? Wie sehen Sie das Verhältnis von Rechtsanwendung und politischen Erwägungen?

Prof. Degenhart: Das sollte man möglichst voneinander trennen, wobei man von seiner politischen Einstellung sicherlich ein gewisses Vorverständnis mitbringt, von dem man immer beeinflusst sein wird. Das hier möglicherweise auch Beifall von der falschen Seite kam, ist bedauerlich, aber vor solchem ist man nie gefeit und das darf eigentlich das Urteil auch nicht beeinflussen.

DkA: Ist es nicht aber zumindest empirisch eine Tatsache, dass politische Erwägungen das BVerfG oft entscheidend leiten? Aufgrund des Mangels einer Verhältnismäßigkeitsprüfung die Kompetenz der EZB zu verneinen und das anders lautende Urteil des EuGH für Ultra-Vires zu erklären ist doch rechtlich nicht wirklich plausibler als schlicht die Kompetenzwidrigkeit und/oder die Unverhältnismäßigkeit und/oder eine Verletzung des Verbots der monetären Staatsfinanzierung festzustellen, wie Sie es ja gefordert haben. Das BVerfG hat, indem es nur die Kompetenzwidrigkeit aufgrund des Mangels einer Verhältnismäßigkeitsprüfung der EZB festgestellt hat, der EZB einen leichten Ausweg aus der Situation gelassen, welchen sie effektiv auch genutzt hat. Das BVerfG hat es somit geschafft, hier – und zum ersten Mal – die Ultra-Vires-Doktrin anzuwenden, ohne die sprichwörtlich noch größere Bombe zu zünden. Ist es nicht naiv, anzunehmen, dass dies ein reines Produkt der politisch-blinden Rechtsanwendung ist?

Prof. Degenhart: Gewisse politische Erwägungen spielen vermutlich auch in das Urteil ein. Das BVerfG war ersichtlich bemüht, der EZB eine goldene Brücke zu bauen. Es war also übrigens keineswegs darauf ausgerichtet, hier die EU zu unterminieren. Man muss hierbei auch verstehen, dass es sich bei solchen Urteilen immer um Kollegialentscheidungen handelt. Der Eindruck des Einflusses von politischen Erwägungen kann teilweise auch dadurch zu erklären sein, dass im Senat möglicherweise ein Kompromiss gefunden werden musste. Im Übrigen war das BVerfG hier immer schon sehr vorsichtig. Im OMT-Verfahren hat es effektiv gesagt, dass die Sache heikel sei, aber wohl gerade noch gehen würde. Im jetzigen Verfahren hat es gesagt: „Ganz so geht’s nun nicht mehr, aber wir zeigen euch einen vernünftigen Ausweg.“ Dieser Ausweg eben könnte Resultat eines Kompromisses im Senat gewesen sein. Ich könnte mir vorstellen, dass wenn es wieder zu einem derartigen Verfahren kommt, dann möglicherweise doch die größere Bombe gezündet wird. Zu der Entwicklung hin zu diesem Urteil und dem Verhältnis BVerfG – EuGH kann ich übrigens den Beitrag von Dieter Grimm in der FAZ vom 18.05.2020 sehr empfehlen.

DkA: Herr Prof. Dr. Degenhart, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Interview: Robert Ziehm


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