Gesellschaft ohne Staat

Von Völkern und StaatenGeorg Jellineks Drei-Elemente-Lehre gehört zu den Grundlagen des Staatsrechts. Doch wie eurozentrisch sind diese nun schon über hundert Jahre alten Ideen?

„Irgendwo giebt es noch Völker und Heerden, doch nicht bei uns, meine Brüder: da giebt es Staaten.“ So schreibt Nietzsche in „Also Sprach Zarathustra“ und so hätte es auch Georg Jellinek in der „Allgemeinen Staatslehre“ schreiben können. Dass die Bundesrepublik ein Staat ist, wird vom Grundgesetz ohne weiteres vorausgesetzt. Die Definition eines Staates geht dabei zurück auf die Drei-Elementen-Lehre des in Leipzig geborenen Georg Jellinek. Nach Jellinek bedarf es für einen Staat drei wesentliche Elemente, die da wären: Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt. Diese These hat sich vielfach als eine angemessene Definition erwiesen und auch die Vereinten Nationen orientieren sich an Jellineks Theorie. Doch stellt sich die Frage, wie bei so vielem das wie die „Allgemeine Staatslehre“ um 1900 geschrieben wurde, inwiefern das Geschriebene einen eurozentrischen Blick widerspiegelt. Insbesondere das Element des festen Staatsgebiets scheint bei Betrachtung von nicht-sesshaften Gesellschaften wenig angebracht. „Dass die autochthonen amerikanischen, afrikanischen und polynesischen Staatenbildungen mit den abendländischen keinen nachweisbaren Zusammenhang haben, bedarf keiner näheren Ausführung“, schreibt Jellinek. Derösterreichische Staatsrechtler hat ausschließlich die europäische Staatsgeschichte zum Objekt seiner Forschung gemacht. Dass dies ein eurozentrischer Blick ist, bedarf keiner näheren Ausführung. Und dennoch ist seine Theorie anwendbar von Kasachstan bis nach Guatemala. Dass Völker aber auch anders leben können, als in einer klassischen Staatsstruktur erklärt Ulrich Demmer, Professor und Institutsleiter der Ethnologie an der Universität Leipzig: „Einige nicht-staatliche Gesellschaften können eine Staatsbildung verhindern durch ihre politische Organisation.“ Sammler und Jäger Gesellschaften beispielsweise sind oft nicht-hierarchisch organisiert, betonen Teilen und Solidarität in Not, so dass exklusive Territorien nicht zwingend sind, und sie haben oftmals eine Ethik, die nicht nur Teilen und Sorge in den Vordergrund stellt, sondern auch weitgehende Egalität, personelle Autonomie, und Herrschaftsfreiheit als Prinzip. Diese Gesellschaftsform könne sich zudem nicht auf ein Territorium begrenzen. Es gäbe jedoch nur noch wenige Sammler und Jäger Gesellschaften in dieser radikalen Form, aber deren Prinzipien sind nach wie vor sichtbar und gelebte Realität. Ein weiteres Beispiel seien segmentäre Gesellschaften. „Diese nicht-staatliche Gesellschaftsstruktur gibt es in Form von Clans und Lineages. Während die Clan-Organisation vor allem im Pazifik und in Australien verbreitet sind, sind die Lineages (Verwandtschaftsgruppen) vor allem auf dem afrikanischen Kontinent verbreitet“, sagt Demmer. „Die Lineages lassen zentrale Herrschaftsverhältnisse nicht zu, sie sind „segmentäre Organisationen“, wo sich verschiedene Lineage-Gruppen ständig miteinander und gegeneinander verbünden, was die Dominanz einer Gruppe auf Dauer verhindert.“Alternative Lebensformen sind zahlreich aber klein. Sie leben ein Randdarsein in den meisten Gesellschaften. Inwiefern dies ohne den Kolonialismus, der zu Jellineks Zeit in vollem Schwung war, heutzutage anders wäre, lässt sich nur schwer einschätzen. Die westlichen Länder haben Edelmetalle und Gewürze aus den Kolonien importiert und ihre Ansichten und Ideen in ihre jeweiligen Kolonien exportiert. Jellineks Staatenlehre scheint eine davon zu sein. „Die Notwendigkeit eines abgegrenzten Gebietes für (das) Dasein des Staates ist erst in neuester Zeit erkannt worden. Die antike Staatslehre faßt den Staat als Bürgergemeinde auf, dessen Identität nicht notwendig mit deren Wohnsitz verknüpft ist. Keine der uns aus dem Altertum überlieferten Staatsdefinitionen erwähnen des Staatsgebietes“, schreibt auch Jellinek dazu. Die Erkenntnis, dass manche Formen menschlichen Zusammenlebens sich nicht unter Jellineks Staatsbegriff subsumieren lassen, führe zu zwei Möglichkeiten, meint Christoph Enders, Professor für Öffentliches Recht, Staats- und Verfassungslehre an der Universität Leipzig: „Entweder handelt es sich bei der beschriebenen Form menschlichen Zusammenlebens nicht um einen Staat oder der Begriff des Staates in seiner jetzigen Form ist unvollständig.“ Letzteres würdenotwendigerweise den Bedarf nach einem aktualisierten Staatsbegriff formulieren. „Ein besserer Begriff ist jedoch derzeit nicht ersichtlich“, sagt Enders. Gerade die Corona Krise habe gezeigt, dass Völker im Ernstfall doch das nationale, im Staat gebündelte und nach außen abgegrenzte Interesse in den Vordergrund stellen. „Die Grenzen wurden geschlossen, die Europäische Union hat sich als besonders schwerfällig erwiesen und jeder Staat verfolgt seine eigenen Regeln und kauft im Zweifelsfall, soweit möglich, auch Impfstoff für sich“, sagt Enders. „Das von Jellinek entworfene Modell des Staates ist oft als überholt bezeichnet worden und lebt doch immer wieder auf, besonders in Konfliktsituationen.“ So manchen laut Enders Ethnien, wenn sie innerhalb eines bestimmten Gebiets mit anderen Ethnien in Konflikt geraten, ein Selbstbestimmungsrecht geltend, das typischerweise in einen eigenen Staat mündet. Diese Menschen wollen auch nicht etwa Nomaden sein, sondern ein eigenes Gebiet für sich. Jellinek hat im Jargon seiner Zeit geschrieben. Das mag heute oft befremdlich wirken und ans rassistische grenzen: „Es gibt Stämme, die überhaupt nicht imstande sind, sich ein über die ersten Rudimente hinausgehendes Staatswesen zu schaffen oder ein entwickeltes Staatswesen dauernd zu erhalten. Solche Stämme bleiben entweder auf der Stufe eines Naturvolkes stehen oder leben in dauernder rechtlicher Unterwürfigkeit unter anderen Völkern (…).“ Und doch hat sich die Theorie des Rechtspositivists als erfolgreich erwiesen. Die Idee eines Staates mit Staatsgebiet als Souverän mag eine Fiktion sein, aber Recht arbeitet nun mal des Öfteren mit Fiktionen.

Sanja Steinwandden Kolonien importiert und ihre Ansichten und Ideen in ihre jeweiligen Kolonien exportiert. Jellineks Staatenlehre scheint eine davon zu sein. „Die Notwendigkeit eines abgegrenzten Gebietes für (das) Dasein des Staates ist erst in neuester Zeit erkannt worden. Die antike Staatslehre faßt den Staat als Bürgergemeinde auf, dessen Identität nicht notwendig mit deren Wohnsitz verknüpft ist. Keine der uns aus dem Altertum überlieferten Staatsdefinitionen erwähnen des Staatsgebietes“, schreibt auch Jellinek dazu. Die Erkenntnis, dass manche Formen menschlichen Zusammenlebens sich nicht unter Jellineks Staatsbegriff subsumieren lassen, führe zu zwei Möglichkeiten, meint Christoph Enders, Professor für Öffentliches Recht, Staats- und Verfassungslehre an der Universität Leipzig: „Entweder handelt es sich bei der beschriebenen Form menschlichen Zusammenlebens nicht um einen Staat oder der Begriff des Staates in seiner jetzigen Form ist unvollständig.“ Letzteres würdenotwendigerweise den Bedarf nach einem aktualisierten Staatsbegriff formulieren. „Ein besserer Begriff ist jedoch derzeit nicht ersichtlich“, sagt Enders. Gerade die Corona Krise habe gezeigt, dass Völker im Ernstfall doch das nationale, im Staat gebündelte und nach außen abgegrenzte Interesse in den Vordergrund stellen. „Die Grenzen wurden geschlossen, die Europäische Union hat sich als besonders schwerfällig erwiesen und jeder Staat verfolgt seine eigenen Regeln und kauft im Zweifelsfall, soweit möglich, auch Impfstoff für sich“, sagt Enders. „Das von Jellinek entworfene Modell des Staates ist oft als überholt bezeichnet worden und lebt doch immer wieder auf, besonders in Konfliktsituationen.“ So manchen laut Enders Ethnien, wenn sie innerhalb eines bestimmten Gebiets mit anderen Ethnien in Konflikt geraten, ein Selbstbestimmungsrecht geltend, das typischerweise in einen eigenen Staat mündet. Diese Menschen wollen auch nicht etwa Nomaden sein, sondern ein eigenes Gebiet für sich. Jellinek hat im Jargon seiner Zeit geschrieben. Das mag heute oft befremdlich wirken und ans rassistische grenzen: „Es gibt Stämme, die überhaupt nicht imstande sind, sich ein über die ersten Rudimente hinausgehendes Staatswesen zu schaffen oder ein entwickeltes Staatswesen dauernd zu erhalten. Solche Stämme bleiben entweder auf der Stufe eines Naturvolkes stehen oder leben in dauernder rechtlicher Unterwürfigkeit unter anderen Völkern (…).“ Und doch hat sich die Theorie des Rechtspositivists als erfolgreich erwiesen. Die Idee eines Staates mit Staatsgebiet als Souverän mag eine Fiktion sein, aber Recht arbeitet nun mal des Öfteren mit Fiktionen. Sanja Steinwand


Posted

in

by

Kommentare

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Website bereitgestellt von WordPress.com.

%d Bloggern gefällt das: