„Das Virus ist klassenlos“

Vor einem Jahr veröffentlichten Alexander Kluge und Ferdinand von Schirach ihren Gesprächsband ,,Trotzdem“. Sie diskutierten die Umstände der Corona-Pandemie und der von ihr ausgelösten Maßnahmen. Schon in den ersten Monaten wagten sie sich mit forschen Thesen vor. Zeit für eine Analyse.

Gewiss, Ferdinand von Schirach ist in der Szene der literarischen Juristen kein Unbekannter. Der 1964 geborene Schriftsteller, ehemals praktizierender Strafverteidiger, ist aus der deutschen Buchbestsellerliste nicht mehr hinwegzudenken. Seit 2009 erscheinen in fast alljährlichem Rhythmus neue Werke samt bedeutungsschweren Titeln wie ,,Verbrechen“ oder ,,Strafe“, aber auch der melancholisch anklingende Erzählband mit persönlichem Einschlag ,,Kaffee und Zigaretten“. Sein Schaffen ist dabei nicht nur auf Kurzgeschichten und Romane beschränkt, so wagt er sich mit seinen Dramen ,,Terror“ und ,,Gott“, die ersten beiden Titel der geplanten Trilogie, auf die deutschen Bühnen. Dabei ergänzt er das Theatererlebnis mit einem demokratisch anmutenden Experiment, indem er die Zuschauenden einlädt, über moralische Fragen abzustimmen. Trotz aller Kritik, die ihm intellektuelle Oberflächlichkeit vorwirft, muss festgehalten werden, dass von Schirach einer der wenigen Schriftsteller ist, dem es gelingt, kontroverse ethische und rechtliche Grundsatzprobleme einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren, zu analysieren und zu diskutieren. Zumindest diesbezüglich steht er in einer Reihe mit Autoren der Nachkriegsliteratur der Bonner Republik wie Heinrich Böll oder Günter Grass. So sahen Anfang Januar zusammengerechnet circa 15 Millionen Zuschauer die Spielfilme unter dem Projektnamen ,,Feinde“.

Auch die pandemische Lage rund um COVID- 19 ließ Schirach thematisch nicht ungenutzt und veröffentlichte gleich zu Beginn einen Gesprächsband mit Alexander Kluge. Letzterer, einst Assistent von Fritz Lang, wurde 1932 geboren und studierte Anfang der 50er Jahre Jura, widmete sich jedoch nach Abschluss seines Referendariats der Filmkunst und gilt heute als eine der führenden und prägenden Gestalten des Neuen Deutschen Films. Ganz in Tradition von Schirachs Werken wird der Leserin ein bedeutungsschwerer Titel anheimgegeben: „Trotzdem“. Dieses 74 Seiten- Gesprächsdokument, das letztlich nur aufgrund seines gewichtigen Pappeinbandes die Bezeichnung des Buches anstatt die eines Heftchens verdient. Es entstand, wie es erneut historisierend im Vorwort heißt, „19 Tage nach (dem) die WHO die Ausbreitung eines neuartigen Coronavirus zu einer Pandemie erklärt hatte“. Sie kommunizierten dabei über einen ,,Instant Messaging Dienst“.

Dieses Vorwort soll, so scheint es zumindest, die Dimension der Zeit festhalten und die Leserin ebenso an alte Briefwechsel großer Köpfe erinnern. Allerdings wirkt dies vorliegend wenig überzeugend. Zumindest erwartet man, dass Briefschreibende im Allgemeinen den Brief zuvorderst für ihren Adressaten schreiben und nicht unmittelbar für ein großes Publikum. Doch genau dieser Eindruck tritt hervor, wenn Schirach Alexander Kluge, der ebenfalls promovierter Jurist ist, noch einmal den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein wenig genauer erläutern soll oder umgekehrt, wenn Kluge Schirach nochmal den Inhalt von dessen eigenem Theaterstück ,,Terror“ zusammenfasst.

Inhaltlich unterteilt sich der Band in zwei Gespräche. Insbesondere in ersterem jagen Kluge und Schirach kaleidoskopartig nur so von Thema zu Thema, von dem fledermausbedingten Ausbruch des Virus springen sie zu Versammlungsverboten und der Triage und diskutieren kurz Impfstoffgruppenpriorität. Danach streifen sie in Windeseile das Wesen der Grundrechte und ihrer Geschichte und enden schließlich bei Schirachs Gemütszustand im Café. Dies ist bedauerlich. Zwar sprechen sie diese hochspannenden Sachverhalte an, aber leider nur oberflächlich. Wäre es doch nun wirklich mal interessant, welche ethische Handlungsweise Schirach und Kluge bezüglich der Triage priorisieren. Doch gerade mal auf vier Seiten geht es von dem Gang nach Canossa über die Unabhängigkeitserklärung von 1776. Letztendlich stellen sie fest, dass der Lockdown, so von Schirach, nicht zu lange dauern dürfe, ,,die Gewalt gegen Frauen und Kinder wird sonst schreckliche Ausmaße annehmen“. Zwischenzeitlich erfährt die Leserin, dass Schirach seit 15 Jahren noch nie zu Hause gekocht hat.

Im zweiten Teil läuft es strukturierter; sie thematisieren andere Naturkatastrophen, wie die Pest als Schwarzer Tod des Mittelalters und zeigen insbesondere anhand des Erdbebens von Lissabon im Jahr 1755 die einsetzende Antwort der Menschen auf solche Umstände: Pragmatismus. Ebenso ziehen sie einen interessanten Vergleich zur jetzigen Krise, wenn sie das Verhältnis von Mensch und Natur betrachten und dabei Ansichten von Voltaire und Rousseau einfließen lassen.

Dieses Buch ist in einer Bahnhofsbuchhandlung rasch gekauft und auf der Zugfahrt noch rascher gelesen. Doch nach wie vor ist das vielbeklagte Thema Corona immer noch – mittlerweile seit mehr als einem Jahr – aktuell und für alle auf dieser Erde schicksalsgebend. Somit sind einige Thesen, die Schirach und Kluge vor einem Jahr geäußert haben, doch interessant genug, um sie zu bewerten und zu sehen, wie sie gealtert sind.

Zum Beispiel meint Schirach, das Virus sei in der Lage, „mit der Börse umzuspringen“ und bezieht sich hierbei auf die weltweit stark fallenden Kurse im März des vergangenen Jahres. Es ist zwar jedem klar, was er hiermit meint, doch drückt er sich für einen Schriftsteller mit juristischem Hintergrund etwas ungenau aus. Nicht das Virus springt mit der Börse, sondern die Menschen, indem sie sich von Angst, Gerüchten und Geldsucht leiten lassen oder gar versuchen, diese Reaktionen durch technische Mittel auszuschalten. Folglich sind es eben nicht sogenannte fundamentale Faktoren wie zum Beispiel die Entwicklung des Preisniveaus, sondern das Auf und Ab der Märkte fußt zunehmend auf psychologischen Ursachen. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf den Vorfall der GameStop- Aktie am Anfang dieses Jahres verwiesen. Letztlich ist das Virus immer noch da und lähmt die Wirtschaft, wenngleich die Aktienmärkte sich stark erholt haben und in den USA sogar im Jahr 2020 Rekorde brachen. Die Finanzwirtschaft ist für die Realwirtschaft keinesfalls alleinig repräsentativ und beide sind schon längst voneinander entkoppelt.

War die erste These vielleicht noch Ausdruck sprachlicher Nachlässigkeit, so ist folgende schon etwas heikler. Schirach meint, das Virus sei ,,klassenlos“ und unterscheide nicht ,,zwischen den Hautfarben, Geschlechtern, zwischen Alter oder Herkunft“. Exemplarisch begründet er dies mit der gleichzeitig stattgefundenen Infektion von Tom Hanks und ,,Menschen in Flüchtlingslagern“. Reichtum und Macht böten somit keinen Schutz vor der Infektion und lediglich die Folgen seien aufgrund der unterschiedlichen medizinischen Versorgung für die einen fataler als für die anderen. Dies greift jedoch zu kurz. So lässt sich doch zunächst auch das persönliche Infektionsrisiko senken, wenn sich jemand aus freien Stücken entscheiden kann, nicht zur Arbeit und somit unter Menschen zu gehen. Schon der Weg zur Arbeit zeigt Klassenunterschiede auf, wenn sich zumeist Personen, die sich kein Auto leisten können, frühmorgens und abends dichtgedrängt in Straßenbahnen und Bussen wiederfinden. Tom Hanks ist dort eher selten anzutreffen. Ebenso ließe sich dies auf die preisintensive Schutzausrüstung erweitern. Eine FFP2- Maske kostete am Anfang dieses Jahres durchschnittlich 5 Euro in der Apotheke. Eine Pflicht zum Tragen ebendieser wurde da gerade diskutiert. Es ist kaum zu übersehen, dass dies für einen Haushalt, der am Existenzminimum lebt, eine schmerzlichere finanzielle Belastung darstellt als anderswo. Angenommen, eine Familie mit 4 Personen wohnt in einer Dreizimmerwohnung mit 60 Quadratmetern, und beide Kinder müssen tagsüber in die Schule (sofern sie denn offen ist), weil beide Elternteile einer Arbeit nachgehen müssen, dann ist nicht nur ihr Infektionsrisiko erhöht, sondern auch eine erdrückende, bereits zuvor vorhandene, Enge im Fall der Erkrankung oder Quarantäne.

Man darf den Thesen in Anbetracht des Zeitpunkts, an dem sie geäußert wurden, Nachsicht entgegenbringen. Ebenso kann man Respekt zollen, für den Mut darüber zu diskutieren, auch auf die Gefahr hin sich zu irren.

Zuletzt führt Schirach noch eine Analogie heran, um das Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit plastisch zu veranschaulichen. Er wählt dafür den Ort des Flughafens und stellt zwei Flugzeuge mit demselben Ziel – New York – zur Auswahl. Bei dem einen erfolge eine zweistündige Prozedur von Durchleuchtungen, Gepäckkontrollen und weiterer Sicherheitsvorkehrungen. Während bei dem anderen Flugzeug keine Kontrolle erfolgt und die Menschen sich einfach reinsetzen können. Stünde der Mensch vor der Wahl, so Schirach, würde er sich mehrheitlich für das Flugzeug mit den strengen Kontrollen entscheiden, selbst wenn er selbst darunter zu leiden hätte.

Ganz abgesehen davon, dass auch immer ein Kompromiss zwischen Sicherheit und Freiheit gefunden werden kann und dieser regelmäßig auch schwierig auszutarieren ist, so verkürzt dieses Entweder- oder die Debatte. Exemplarisch soll die gegenwärtige Situation dienen. Zum Zeitpunkt der Bearbeitung herrscht ein strenger Lockdown mit zwar vielen Freiheitseinschränkungen, doch die individuelle Arbeit wird, abgesehen von großen Teilen des Dienstleistungsbereichs, weitestgehend ermöglicht, inklusive die Arbeit in Großraumbüros. Die Corona-Fallzahlen erlauben keine noch so kleinen Lockerungen im privaten Bereich und so zog es sich seit November Monat für Monat dahin. Eventuell hätte ein sehr strikter Lockdown, der auch nicht lebensnotwendige Betriebe eingeschlossen hätte, die Situation entspannt. Schirach würde dies, die maximale Einschränkung der Freiheit nennen. Doch auch gerade diese wäre eben auch in größerem Maße möglich gewesen und wiedergekommen. Es zeigt sich somit, dass der Zeitpunkt ebenso entscheidend ist und dass ein hohes Maß an Sicherheit auch die Freiheit gewährleisten kann.

Abschließend führen Kluge und Schirach die Hoffnung an, dass es nach der Krise Zeit sei, eine europäische Verfassung zu formulieren. Eine Verfassung soll nicht nur ein Abbild der Gesellschaft sein und zeigen, wie sie aktuell ist, sondern wie sie erwünscht ist und Ideal genug ist, um angestrebt zu werden. Dieser Gedanke wirkt zwar zunächst naiv und utopisch, allerdings auch tröstlich und erstrebenswert. Auch in Schirachs neuem Band ,,Jeder Mensch“, der erst kürzlich im April 2021 erschien, konstruiert er diese Idee weiter und entwirft zunächst sechs neue Grundrechte, darunter das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben sowie beispielsweise das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Erneut spannt er den historischen Bogen von der Unabhängigkeitserklärung und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 zu einer heutigen europäischen Verfassung. Zwar beschreibt er die Entwicklung pathetisch, doch was wäre eine Utopie ohne Pathos?

Letztlich könne sich aus der jetzigen Situation sowohl das Schreckliche als auch das Strahlende heraus entfalten. Dies ließe sich ebenso auf das Buch übertragen. Es gibt Strahlendes und nicht so Strahlendes.

Ferdinand von Schirach, Alexander Kluge: Trotzdem; München 2020. Luchterhand Literaturverlag. 80 Seiten. 8,- €. ISBN 978-3-630-87658-0

Paul Schüller


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