Der blinde Fleck im deutschen Recht

Obwohl der Tierschutz im deutschen Recht an mehreren Stellen gesetzlich verankert ist, wird in der Praxis nur zurückhaltend gegen Verstöße vorgegangen. Gesetzliche Hürden und Probleme der Vollziehung erschweren eine konsequente Normanwendung. Eine strafrechtliche Novellierung könnte Abhilfe schaffen.

Ein historisches Urteil des Amtsgerichts Ulm im März 2019: Ein Schweinezüchter wird wegen Tierquälerei in der Massentierhaltung zu drei Jahren Haft verurteilt. Der Richter sprach von einer „Massentierhölle“, in der mehr als 1.600 Schweine aufgrund katastrophaler Haltungsbedingungen umkamen oder wegen schwerer Verletzungen auf Weisung des Veterinäramtes getötet werden mussten. Nicht zuletzt hatte der Angeklagte selbst verletzte Tiere mit einem Vorschlaghammer erschlagen. Was auf den ersten Blick als konsequente und folgerichtige Verurteilung erscheint, ist für Tierschützer:innen ein Meilenstein im deutschen Tierschutzstrafrecht. Zum ersten Mal wurde ein industrieller Tierhalter in Deutschland wegen Tierquälerei zu einer Haftstrafe verurteilt.

Im Jurastudium gibt es kaum Berührungspunkte mit Tierschutzstrafrecht, noch weniger bekannt sind die Voraussetzungen, die das Gesetz an eine Strafbarkeit knüpft. Dabei hat unser gesellschaftlicher Wandel, auch fernab vom militanten Veganismus, das Tierwohl mehr und mehr in den Blickpunkt politischer und juristischer Diskussionen gerückt.

Gesetzliche Regelungen für den Schutz von Tieren finden sich seit dem Jahr 1972 im deutschen Tierschutzgesetz (TierSchG). Der Kerngedanke wird in § 1 TierSchG formuliert und stellt den Schutz von Leben und Wohlbefinden der Tiere unter die Verantwortung des Menschen.

Auch auf verfassungsrechtlicher Ebene wurde der Verantwortung des Staates gegenüber Tieren Rechnung getragen. Seit dem Jahr 2002 verpflichtet Art. 20a GG den Staat, auf den Schutz der Tiere zu achten und zur Verwirklichung des Schutzauftrages ein geeignetes gesetzliches Instrumentarium einzurichten. Ungeachtet der rechtlichen Rahmenbedingungen könnte die Kluft zwischen Telos und Realität nicht größer sein.

Art. 20a GG

„Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“

Das einzige Mittel um dem Verlangen nach billigen Tierprodukten und der Ökonomisierung der Tierhaltung Einhalt zu gebieten, stellt die Strafvorschrift des § 17 TierSchG dar. Die Norm stellt Tierquälerei von Wirbeltieren unter Strafe und umfasst mit der Tiertötung ohne vernünftigen Grund (Nr. 1), der rohen Tiermisshandlung (Nr. 2 lit. a) und der quälerischen Tiermisshandlung (Nr. 2 lit. b) drei Begehungsvarianten.

§ 17 TierSchG

„Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer

1. ein Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet oder

2. einem Wirbeltier

a) aus Rohheit erhebliche Schmerzen oder Leiden oder

b) länger anhaltende oder sich wiederholende erhebliche Schmerzen oder Leiden

zufügt.“

Dabei liefert die Norm die erste große Schwachstelle schon selbst: Wann genau ein „vernünftiger Grund“ vorliegt, ist gesetzlich nicht näher definiert. Als unbestimmter Rechtsbegriff bedarf dieser der Wertung, die nicht zuletzt auch dem gesellschaftlichen Wandel unterliegt. Die Rechtfertigung durch einen vernünftigen Grund ist lediglich eine Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes: Die Abwägung zwischen Tierwohl und wirtschaftlichen Interessen, unter anderem der Landwirtschaft. Sowohl gesellschaftlich als auch rechtlich anerkannt ist die Tötung – vor allem auch in der Massentierhaltung – zu Nutzzwecken wie der Fleischgewinnung. Keine Beachtung bei Verhältnismäßigkeitserwägungen findet indessen der Umstand, dass die Tötung aus „vernünftigem Grund“ vor allem ökonomischer Natur ist. Im Jahr 2020 lag die Anzahl der Schlachtungen in Deutschland bei 759 Millionen Tieren. Eine Zahl bei der Zweifel am „vernünftigen Grund“ aufkommen können.

Auch die mangelnde Sachkenntnis und Unsicherheit der Justiz darüber, was gemäß § 17 Nr. 2 TierSchG „erhebliche Leiden und Schmerzen“ sind, führt zu einer weiteren Einbruchstelle einer konsequenten Normanwendung. Zählen dazu schon schlechte Haltungsbedingungen, mangelnder Auslauf, fehlendes Tageslicht in Ställen? Dazu bietet selbst das Gesetz – außerhalb spezialgesetzlicher Regelungen – keine Anhaltspunkte. Die Diskussion über die Fähigkeit von Tieren, Leiden und Schmerz zu empfinden, beschränkte sich in den letzten Jahren auf wissenschaftliche Überlegungen. Renate Künast, Sprecherin für Ernährungs- und Tierschutzpolitik der Fraktion Bündnis 90/die Grünen im Bundestag stellte fest, dass Strafverfolgungsbehörden bei der Entscheidung über diese Frage in der Vergangenheit ausgeschlossen wurden und wenig fundierte Kenntnisse über die Leidensfähigkeit und Schmerzempfindung eines Tieres gewinnen konnten. Eine fehlende Rechtssicherheit, die sich auch in den Verurteilungszahlen niederschlägt. So wurden im Jahr 2018 ca. 800 Personen wegen Tierquälerei gemäß § 17 TierSchG verurteilt, der Großteil davon zu Geldstrafen. In lediglich 40 Verurteilungen wurde eine Freiheitsstrafe ausgesprochen. Nur zwei Verurteilte davon mussten ihre Freiheitsstrafe ohne Bewährung antreten. Die relativ milde Sanktionierung lässt sich damit begründen, dass Tierschutzdelikte häufig als Bagatelldelikte abgetan werden. Mithin zeugt das Tierschutzstrafrecht von einer extrem hohen Einstellungsquote.

Das Problem ist: Gegenwärtig fehlt es noch an ausreichend transparenten Gesetzen und Verordnungen, die einen Rückschluss auf artgerechte Haltungsbedingungen zulassen und die Exekutive zum Handeln zwingen. Ein denkbarer Ansatz für die Gesetzgebung wäre, die Unterschreitung von gesetzlich festgelegten Haltungsbedingungen als Indikator eines tierschutzrelevanten Verstoßes zu sehen.

Aber nicht nur bei der Ahndung von Tierschutzstraftaten treten erhebliche Defizite auf, sondern auch bei Kontrollen tierhaltender Betriebe. In den Jahren 2009 bis 2017 wurden Betriebe in Deutschland im Durchschnitt alle 17 Jahre kontrolliert. Zahlreiche Medienberichte von Tierrechtsorganisationen, wie zum Beispiel der Bericht der Animal Rights Watch e.V. vom 12. September 2020 ergaben zudem, dass der Schutz von Tieren unter gewerblicher Tierhaltung oftmals nicht gewährleistet ist und erhebliche Mängel bei Haltung, Transport und Schlachtung bestehen. Durchlässige Kontrolle führen dazu, dass Missstände in der Tierhaltung gar nicht geahndet werden. Dabei machen die fehlenden Einblicke in die Haltungsbedingungen die behördlichen Kontrollen umso bedeutsamer.

Eine leise Hoffnung auf das Ende des Schattendaseins des Tierschutzstrafrechts brachte der Gesetzesentwurf der Bundestagsfraktion Bündnis 90/die Grünen im März 2021 zur Änderung des Strafgesetzbuches und des Tierschutzgesetzes. Der Gesetzesentwurf sieht mit der Wiederbelebung des § 141 StGB eine Verschiebung des § 17 TierSchG in das Kernstrafrecht vor. Unter Beibehaltung der strafbaren Tathandlung dient die Überführung in das StGB der Sichtbarkeit der Norm und der Erhöhung der Bedeutung in der Gesellschaft und der juristischen Ausbildung. Gleichzeitig soll der Kernstraftatbestand um Erschwerungsgründe ergänzt werden und somit eine Anhebung des Strafrahmens auf fünf Jahre für Personen mit Garantenstellung, wie Tierhalter:innen, Amtsträger:innen und Gewerbetreibende eingeführt werden. Nach öffentlicher Anhörung von Expert:innen zur Änderung des Strafgesetzbuches und Tierschutzgesetzes am 17. Mai 2021 ist der Gesetzesentwurf wieder in den Hintergrund gerückt.

Angesichts der bisherigen Vollzugsrealität und der offensichtlichen Kontrolldefizite ist es an der Zeit eine Verschärfung der strafrechtlichen Normen vorzunehmen und den Blick der Gesellschaft auf die mangelhafte Umsetzung des Tierschutzes zu lenken. Das Tierschutzstrafrecht fristete zu lange ein Schattendasein im Nebenstrafrecht, dessen Stellung auch die Verankerung des Tierschutzes in Art. 20a GG nicht verbessern konnte. Ebenso wenig erträglich ist das Vertrauen allein auf private Tierschutzorganisationen, die zunehmend selbst straffällig werden müssen, um das Handeln von Behörden einzuleiten. Die Passivität der staatlichen Institutionen ist nicht mehr hinnehmbar. Die angemessene Antwort auf die Missstände im Tierschutz kann nicht in freiwilligen Maßnahmen von privaten Organisationen oder in investigativen Recherchen von einzelnen Privatpersonen liegen. Der Tierschutz braucht eine gesetzliche Novellierung, klare Rahmenbedingungen und undurchlässige Kontrollen der zuständigen Behörden.

Natalie Taubert

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