Spannungsfeld Vollzeitpflege

Herausforderungen für Pflegeeltern und Pflegekinder – Teil I

Die Vollzeitpflege eines ,,fremden“ Kindes ist immer auch mit der Öffnung des privaten Bereichs in Bezug auf Institutionen der Jugendhilfe und der Herkunftsfamilien verbunden. Bei Konflikten kann es schnell dazu kommen, dass das Kind zum Spielball von Erwachsenen wird. Das geltende Recht bietet Pflegefamilien dabei oftmals keinen ausreichenden Schutz.  

von Yasmin Schnack

I. Einführung

Im Jahr 2021 belief sich die Anzahl von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, die im Rahmen einer Vollzeitpflege längerfristig außerhalb der eigenen Herkunftsfamilie bei sogenannten Pflegeeltern untergebracht waren, auf fast 90.000. Unter der Vollzeitpflege wird nach § 33 VIII. Sozialgesetzbuch (SGB VIII) die Unterbringung, Betreuung, Versorgung und Erziehung eines Kindes über Tag und Nacht außerhalb des eigentlichen Elternhauses verstanden. Anders als in der Heimerziehung und sonstigen betreuten Wohnformen kommen die Kinder hier nicht in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung unter, sondern in dem privaten Wohn- und Lebensumfeld einer Pflegefamilie. Sie werden daher nicht von ausgebildeten Fachkräften betreut, sondern von Privatpersonen. Diese müssen war zur Aufnahme eines Pflegekindes geeignet sein, eine besondere pädagogische Qualifikation wird jedoch nicht benötigt. Für den Staat ist die Vollzeitpflege damit die günstigste Methode, Kinder unterzubringen, deren Eltern dauerhaft außerstande sind, ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen oder die in ihren Herkunftsfamilien vernachlässigt oder seelisch und körperlich misshandelt wurden. Die Vollzeitpflege in Pflegefamilien hat für die Jugendhilfe einen immensen wirtschaftlichen Wert. Gleichzeitig bietet kaum eine andere Unterbringungsmöglichkeit mehr Struktur, Sicherheit, Geborgenheit und Normalität für das Kind.

In der Vollzeitpflege befindet sich das Kind jedoch auch im Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen zahlreicher Erwachsener. Besonders die Pflegeeltern werden hier häufig nur unzureichend über ihre Rechte aufgeklärt und finden sich dann ungewollter Weise in Rechtsstreitigkeiten wieder. Die bisherigen rechtlichen Regelungen beugen einem Machtmissbrauch des Jugendamts teilweise nur unzureichend vor, werden in der Praxis durch ausufernde Spielräume kaum beachtet oder heben die besondere soziale Stellung der Pflegeeltern für das Kind nicht ausreichend hervor.

Die Beitragsreihe soll einen Überblick über die bestehenden rechtlichen Missstände in der Vollzeitpflege geben. Hierbei werden die rechtlichen Herausforderungen für die Pflegefamilie, bestehend aus Pflegeeltern und Pflegekind in den Vordergrund gerückt.

II. Die Rückführung des Kindes in seine Herkunftsfamilie bei dauerhafter Vollzeitpflege

1. Gesetzlicher Vorrang der Rückführung in die Herkunftsfamilie

Die Annahme, dass Kinder am besten bei ihren Herkunftseltern aufgehoben sind, trifft glücklicherweise für die weit überwiegende Mehrheit aller Familien zu. Unter dieser Prämisse funktioniert auch die Vollzeitpflege. Die Inpflegenahme eines Kindes nach § 33 SGB VIII stellt grundsätzlich eine vorübergehende Maßnahme dar, die zu beenden ist, sobald es die Umstände erlauben. Die Fremdunterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie ist damit immer auch mit dem gesetzlichen Ziel verbunden, dass das Kind wieder in seine Herkunftsfamilie zurückkehrt. Der Vorrang dieser Rückkehroption beruht auf der sorgerechtlichen Zuordnung des Kindes zu seinen Eltern nach Art. 6 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK. Die Wegnahme des Kindes aus der Herkunftsfamilie stellt immer auch einen schwerwiegenden Eingriff in das Elterngrundrecht der leiblichen Eltern nach Art. 6 GG dar. Die Überprüfung einer Beendigung der Maßnahme und einer Rückführung in die Herkunftsfamilie müssen daher immer möglich sein. Eltern bleiben schließlich zeitlebens Eltern, unabhängig vom Entwicklungs- und Schicksalsverlauf einer Familie. Das gilt auch für jene Eltern, deren Kinder ihnen aus unterschiedlichsten Gründen weggenommen wurden – auch wenn sie diese vernachlässigt, misshandelt oder missbraucht haben. Das Elterngrundrecht des Art. 6 GG umfasst damit auch die Möglichkeit, dass die ehemalige Erziehungsunfähigkeit der Eltern durch helfende Maßnahmen wiederhergestellt werden kann. Das ,,ideale“ Szenario in der Theorie sieht daher wie folgt aus: Ein Kind kommt in einer akuten Notsituation in eine Pflegefamilie. Bald kann es wieder zu seinen leiblichen Eltern zurückkehren, wenn sich deren Lebensumstände stabilisiert haben.

2. Entstehung einer sozial-familiären Beziehung in der Pflegefamilie

In der Praxis läuft dies jedoch nicht immer so ab. Häufig werden die Kinder unmittelbar nach ihrer Geburt oder im Kleinkindalter aus ihren Herkunftsfamilien genommen und in die Obhut einer Pflegefamilie gegeben. Im Durchschnitt bleiben sie 30 Monate dort, ehe eine Rückführung in die Herkunftsfamilie überhaupt im Raum steht. Das sind zweieinhalb Jahre, in denen die Pflegeeltern tagtäglich Sorge für das Kind tragen, sich ihm gegenüber liebevoll und feinfühlig verhalten und sich somit ernsthaft auf eine enge persönliche Beziehung mit ihm einlassen. Für die dadurch entstehenden Bindungen des Kindes spielt es keine Rolle, dass es sich bei den ihn tagtäglich versorgenden Personen nicht um seine leiblichen Eltern handelt. Befunde zur Bindungsentwicklung von Kindern mit Gefährdungserfahrungen zeigen, dass es dem Großteil der in Pflegefamilien lebenden Kinder binnen nur ein bis zwei Jahren gelingt, tragfähige Beziehungen zu den Pflegeeltern aufzubauen. Dies zeigt, dass der Bindungsprozess des Kindes verwandtschaftsunabhängig erfolgt. Daraus entsteht auch aus rechtlicher Sicht eine sogenannte ,,sozial-familiäre Beziehung“, in welcher die Pflegeeltern die tatsächliche Verantwortung für das Kind tragen. Diese erkennt der Gesetzgeber in anderen Konstellationen (z.B.: Ausschluss der Vaterschaftsanfechtung bei sozial-familiärer Beziehung) durchaus auch als schützenswert an.

3. Fehlender rechtlicher Schutz der sozial-familiären Beziehung in der Pflegefamilie

Einen solchen Schutz gesteht der Gesetzgeber der sozial-familiären Beziehung in Pflegefamilien jedoch nicht zu. Selbst bei einem jahrelangen Aufenthalt des Kindes in der Pflegefamilie, behalten die leiblichen Eltern die rechtliche Möglichkeit, sich an ein Familiengericht zu wenden und eine Rückführung des Kindes anzustrengen. Laut dem Bundesverfassungsgericht hat die darauffolgende Trennung des Kindes von der Pflegefamilie geringeres Gewicht: Die Vollzeitpflege wäre institutionell auf Zeit angelegt. Die Vermittlung eines Kindes in eine Pflegefamilie diene nicht vordergründig der Bildung einer neuen Familienkonstellation, sondern folge dem verfassungsgemäßen Anspruch der leiblichen Eltern auf Unterstützung bei der Wahrnehmung ihres Erziehungsrechtes und ihrer Erziehungsverantwortung. Bei der Herausnahme des Pflegekindes aus der Familie der Pflegeeltern sei diesen daher grundsätzlich zuzumuten, den mit der Trennung verbundenen Verlust zu tragen (BVerfG v. 23.08.2006, Az. 1 BvR 476/04). Eine Sicherstellung der auf Dauer angelegten Lebensform in einer Pflegefamilie ist, trotz des Wortlautes in § 33 SGB VIII („auf Dauer angelegt“), im Familienrecht bisher nicht vorgesehen. Damit wird klar, dass Pflegeeltern nach Willen des Gesetzes eher temporäres Auffangbecken als gleichgestellte faktische ,,Eltern“ für das Kind sein sollen, selbst wenn eine schützenswerte sozial-familiäre Beziehung längst entstanden ist.  

4. Elternrechte als uneinnehmbares Bollwerk auch bei der Verbleibensanordnung   

Einem Rückführungsbegehren der leiblichen Eltern kann nur eine sogenannte Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB entgegengesetzt werden. Mit einer solchen kann das Gericht bestimmen, dass das Kind bei den Pflegeeltern bleibt – wenn auch nur zeitlich begrenzt. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung findet hier nicht zwischen dem Elterngrundrecht der leiblichen Eltern und den Grundrechtspositionen der Pflegeeltern statt. Stattdessen wird das Kindeswohl abgewägt. Dieses ist dem Elternrecht vorrangig. Ausschlaggebend ist dabei nicht, welche der (Pflege-)Eltern besser für das Kind sind. Insbesondere das sogenannte Kontinuitätsprinzip i.S.d. § 1671 BGB (Prinzip, nach welchem entschieden wird, bei welchem Elternteil ein Trennungskind leben soll, wobei Kontinuität und Stabilität der Erziehungsverhältnisse im Vordergrund stehen) wird nicht berücksichtigt. Stattdessen wird lediglich überprüft, ob die leiblichen Eltern (wieder) erziehungsfähig sind und eine Kindeswohlgefährdung durch sie ausgeschlossen ist. Eine Kindeswohlgefährdung liegt vor, wenn eine gegenwärtige oder zumindest unmittelbar bevorstehende Gefahr für die Kindesentwicklung abzusehen ist, die bei ihrer Fortdauer eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. Eine solche ist auch dann anzunehmen, wenn das Kindeswohl bei einem Abbruch der Bindungen des Kindes zu seinen Pflegeeltern erheblichen Schaden nehmen könnte. Verschiedene kinderpsychologische Studien beweisen, dass jede abrupte andauernde Trennung von einer Bindungsperson, ein erhebliches Risiko für das Kind darstellt. Dieses Risiko kann in eine Kindeswohlgefährdung einmünden. Trennungen dieser Art gefährden daher regelmäßig das Wohlergehen des Kindes. Selbst wenn das Gericht eine solche Kindeswohlgefährdung bejaht, stellt die Verbleibensanordnung dennoch keinen dauerhaften Schutz der sozial-familiären Beziehung in der Pflegefamilie dar, da diese grundsätzlich befristet wird.

5. Fazit: Auseinanderfallen von Lebenswirklichkeit und rechtlicher Stellung der Pflegefamilie

Dies alles zeichnet folgendes Bild: Das gesetzliche Ziel in § 37 Abs. 4 SGB VIII, wonach Pflegekinder grundsätzlich wieder zurück in ihre Herkunftsfamilien geführt werden sollen, kann bei dauerhaften Vollzeitpflegefällen, in denen das Kind bereits mehrere Jahre bei der Pflegefamilie lebt und eine sozial-familiäre Beziehung entstanden ist, nicht funktionieren. Dennoch werden auch solche Pflegekinder immer wieder in ihre Herkunftsfamilien zurückgeführt. Dass die Vollzeitpflege grundsätzlich ein auf Zeit angelegtes Konzept ist, kann ein solches Vorgehen nicht begründen. Auch Konzepte müssen sich stets an der Realität messen lassen und dürfen keinesfalls zur Pauschalisierung führen. Das Kind erfährt in seiner langjährigen Pflegefamilie die Kontinuität und Stabilität, welche es für seine Entwicklung braucht. Kommt es aufgrund des Rückführungsbegehrens der leiblichen Eltern zum Rechtsstreit, klaffen diese Lebenswirklichkeit und die rechtliche Stellung der Pflegefamilie meilenweit auseinander. Auch eine zeitlich begrenzte Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier eine Schutzlücke besteht. Stattdessen wirkt die Norm angesichts der darin enthaltenden maßlosen Überhöhung des Elternrechts lediglich als halbherziger Versuch, die Lebenswirklichkeit und die rechtliche Stellung von Pflegefamilien anzunähern. Für die Pflegeeltern verbleibt es jedoch bei einer rechtlich unsichere Situation, da sie auch nach Jahren der Pflegschaft befürchten müssen, dass das Kind wieder aus ihrer Familie herausgenommen wird. Des Weiteren wird der zumutbare Risikobereich des Kindes zum Wohle seiner leiblichen Eltern aufgeschwemmt, da die Gewährleistung seiner stabilen Erziehungsverhältnisse und seiner Bindungen in der Pflegefamilie bei der Verbleibensanordnung nicht bedacht werden. Dabei erlangt die Bedeutung von faktischen Familien und sozial-familiären Beziehungen in Deutschland immer größeres Gewicht. Es ist daher erforderlich, dass auch im Kontext der Vollzeitpflege eine gesetzliche Regelung eingeführt wird, die eine zivilrechtliche Absicherung der sozial-familiären Beziehung in der Pflegefamilie auf Dauer ermöglicht – auch und vor allem bei einem Rückführungsbegehren der leiblichen Eltern. Diese muss ausschließlich kindeswohlzentriert erfolgen, wobei insbesondere beachtet werden muss, welche (Pflege-)Eltern geeigneter sind, stabile Erziehungsverhältnisse zu gewährleisten. Nur so kann der rechtlich unsicheren Lage von Pflegefamilien bei einem Rückführungsbegehren der leiblichen Eltern entgegengewirkt werden.

Der Beitrag wird fortgesetzt.                                                                                   


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