Das PSPP-Urteil des BVerfG vom 05.05.2020 hat Dispute über die fundamentalsten Verfassungsfragen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten deutlich zum Vorschein gebracht. Auch wenn die Verfassungskrise fürs erste abgewendet sein dürfte, ist sie weiterhin latent vorhanden. Zeit um über die eigenen rechtlichen first-principles zu reflektieren.
Nun sag, wie hast Du’s mit der Kompetenz-Kompetenz? Wo liegt sie, bei der EU, beim Mitgliedsstaat, oder irgendwie auf beiden Ebenen? Das führt zur nächsten Gretchenfrage: Aus welcher Rechtsquelle ist denn zu bestimmen, wo die Kompetenz-Kompetenz liegt? Schaust Du auf die positive Rechtslage, aufs Naturrecht oder etwas anderes Undefiniertes?
Nach meiner Erfahrung – größtenteils gesammelt durch das Lesen der gewaltigen Reaktionswelle auf das Urteil auf Verfassungsblog.de – scheint man allerdings fast allein durch das Benutzen dieser Begriffe die Antwort schon vorweg zu nehmen. Von der Kompetenz-Kompetenz sprechen fast nur diejenigen, die sie fest beim Mitgliedstaat verorten (nationale Monisten). Konstitutionelle Pluralisten (die Souveränität auf beiden Ebenen sehen) sprechen lieber von „konstitutioneller Autorität“ und EU-Monisten (welche die EU für die Inhaberin der Kompetenz-Kompetenz halten) scheinen das Thema selten so explizit anzusprechen. Sie begnügen sich zumeist mit einem Verweis auf das EU-Primärrecht. Sorgen um methodische Konsequenz und konstitutionell-dogmatische Ordnung (einheitliches System der Normenhierarchie) machen sich für gewöhnlich auch eher Positivisten als Naturrechtler. Ich habe mich somit schon als nationaler Monist und Positivist zu erkennen gegeben, es fehlt nur die Begründung.
Das Grundgesetz beantwortet die Frage nach der Kompetenz-Kompetenz eindeutig: Sie liegt beim Bund. Kompetenzen werden im Grundgesetz verteilt, die Kompetenz-Kompetenz liegt damit gemäß Art. 79 Abs. 1 und 2 GG – innerhalb der Schranken des Art. 79 Abs. 3 GG – beim verfassungsändernden Gesetzgeber, also beim Bund. Auch Art. 23 Abs. 1 GG ist eindeutig: Der Bund kann Hoheitsrechte an die EU übertragen. Der Bund kann sie übertragen, nicht die EU kann sie nehmen. Deswegen nimmt das BVerfG auch richtigerweise beim Europarecht sogenannte Verfassungsidentitäts- und Ultra-Vires Kontrollen vor. Ich bin also nationaler Monist, weil ich als Positivist das Grundgesetz für in dieser Frage maßgeblich halte und das Grundgesetz eine klare Antwort bietet.
Warum aber gilt das Grundgesetz? Letztlich beruht die Gültigkeit eines Verfassungsgesetzes auf sich selbst, auf einem (politisch-normativen) leap of faith (also einem Dogma) oder auf Hans Kelsens imaginärer Grundnorm. Man könnte auch, um eine Kompetenzzuteilung zu begründen, immer wieder „-Kompetenz“ an die vorherige Kompetenz dranhängen, immer wieder eine weitere imaginäre Grundnorm für die Gültigkeit der Vorherigen postulieren – bis ins Unendliche.
Um also nicht entweder im unendlichen Regress oder im Zirkelschluss zu landen, brauchen wir ein Dogma pro Verfassungsstaat. Man könnte behaupten, damit wäre man letztlich doch wieder beim Naturrecht angelangt, aber lassen wir das. Ich könnte jetzt versuchen meine beste Begründung sowohl für den Rechtsstaat als auch für den Positivismus (also dafür, dass Quelle des Rechts nur die positiven Gesetze sind) darzulegen. Aber das würde ausufern und andere haben das ohnehin schon besser begründet als ich es jemals könnte. Die Vorzugswürdigkeit des Rechtsstaats gegenüber Alternativen dürfte zudem „sehr hM“ sein. Auch die Meinung, dass unsere Verfassung neben dem positiven Grundgesetz noch andere, naturrechtliche Rechtsquellen hat, ist kaum anzutreffen. Das BVerfG und die mir bekannte Wissenschaft betreibt Verfassungsrecht allein am Maßstab des Grundgesetzes. So sehr es schmerzt, mit „es ist hM“ argumentiert zu haben, muss das an dieser Stelle doch reichen. Wem das nicht genügt und wer sich darüber streiten möchte, möge mir bitte schreiben.
Aber EU-Primärrecht ist ja auch positives Recht? Klar, jedoch eben welches, das aus deutscher Perspektive im Kontext und unter der Wirkmacht des Grundgesetzes geschaffen wurde. Es ist daher zwingend in diese Ordnung einzureihen. Etwas anderes zu behaupten wäre gleichbedeutend mit der Feststellung, dass es irgendwann in der Geschichte des Europarechts einen Putsch gegen die grundgesetzliche Ordnung gegeben hätte.
Jetzt liegen die Karten endgültig offen auf dem Tisch, Zeit für etwas Reflektion. Als ich mich mit meinen (nicht juristisch ausgebildeten) Freunden über das Urteil und meine Meinung dazu unterhielt, hielt mir einer von ihnen entgegen, dass Positivismus und Rechtsstaatlichkeit sicherlich etwas wären was man predigen sollte und an das man Amtsgerichte und die Verwaltung immer wieder erinnern müsse, aber dies nichts für Verfassungs- und oberste Bundesgerichte sei. Diese müssten im Lichte ihrer normativ-politischen Verantwortung politischer entscheiden, wobei der Gesetzestreue zwar Gewicht beizumessen, diese aber nicht zwingend sei. Je höher das Gericht, desto mehr müsse es sich von den tatsächlichen Folgen seiner Entscheidung – und nicht von der positiven Rechtslage – leiten lassen. Anzumerken ist noch, dass wir unter der Annahme diskutiert hatten, dass nicht nur die Letztentscheidungskompetenz des BVerfG in Kompetenzfragen rechtlich zwingend war, sondern auch der Inhalt der Entscheidung selbst. Letzteres dürfte tatsächlich wohl gut diskutierbar sein, ist aber jedenfalls für die hier gestellte prinzipielle Frage – ob ein Gericht in seiner Entscheidung von der positiven Rechtslage abweichen darf/sollte – irrelevant. Eine Antwort habe ich nicht wirklich, nur vielleicht, dass es selbstverständlich auch für Positivisten höhere normative Werte geben kann, als sich an die positive Rechtslage zu halten. Fritz Bauer hat mal gesagt, dass Hochverrat am Dritten Reich gar nicht möglich war. Soweit mit „Hochverrat“ ein rechtlicher Terminus technicus gemeint ist, muss ein Positivist in Anbetracht der damaligen Gesetzes- und damit Rechtslage widersprechen. Für den (ethisch aufrechten) Positivisten ist Hochverrat am Dritten Reich zwar tatbestandlich erfüllbar, aber gleichzeitig ist die Erfüllung dieses Tatbestandes – und damit das Handeln gegen die damalige Rechtslage – normativ äußerst begrüßenswert. Rechtstreue ist ein Gut, dessen Gewicht von der „Güte“ der Rechtslage abhängt (und durchaus ins Negative kippen kann) und selbst bei äußerst „guten“ Rechtslagen von anderen Faktoren überwogen werden kann. Ob diese Schwelle hier erreicht ist, darf man allerdings, trotz der wohl herausragenden Bedeutung des PSPP für den Bestand der Eurozone, bezweifeln (a.A. vertretbar). Außerdem gilt diese Überlegung – also, dass es normativ richtig sein kann gegen die (positive) Rechtslage zu handeln – für Amts- und Verfassungsgerichte gleichermaßen. Bei Verfassungsgerichten sind nämlich nicht nur die „anderen“ Faktoren, sondern auch die Rechtstreue von größerem Gewicht: Ein Verfassungsgericht kann durch Missachtung der positiven Rechtslage viel größeren Schaden am Rechtsstaat anrichten, als ein Amtsgericht.
Tatsächlich ist das Argument meines Freundes jedoch nicht nur ein solches, es taugt auch als empirische Beobachtung. Selbst das BVerfG ist manchmal nicht dem positiven Grundgesetz treu. Überwiegend politische Urteile gab es schon (z.B. 2 BvR 392/07, Inzest-Entscheidung) und auch beim PSPP-Urteil ist aus rechtlicher Perspektive nicht wirklich ersichtlich, warum die EZB zwar kompetenzwidrig agiert haben soll, aber dies nur aufgrund einer mangelnden Verhältnismäßigkeitserwägung welche auch noch nachholbar sein soll. Aus politischer Perspektive betrachtet ergibt diese Konstruktion jedoch Sinn: Das BVerfG konnte so sein Verhältnis zum EuGH klarstellen und einen Warnschuss in Richtung EZB abgeben, ohne ein Erdbeben in der Eurozone auszulösen. Das BVerfG ist realistisch betrachtet andauernd von politischen Erwägungen zumindest mitgeleitet. Mehr noch der EuGH, dessen Entscheidungen sehr verlässlich allein danach vorhergesagt werden können, ob sie der EU und ihren zentralen Institutionen mehr oder weniger Macht zukommen lassen.
Dieses Problem ist wohl nicht gänzlich lösbar. Das Ideal des reinen Rechts wie Hans Kelsen es sich vorgestellt hat, ist nicht nur rein praktisch, sondern wohl auch prinzipiell nicht realisierbar. Unklarheiten und der Einfluss der eigenen Weltanschauung bleiben bei jeder noch so disziplinierten Auslegung bestehen. Gesetze sind sprachlich gefasst und es gibt keine perfekte Sprache. Aber nur weil dieses rechtsstaatliche Ideal nicht gänzlich zu erreichen ist, sollte man den Versuch, möglichst nah heran zu kommen, nicht aufgeben. Schließlich geben wir ja auch nicht das Sprechen auf, nur weil es keine perfekte Sprache gibt und wir geben die Verbesserung der Sprache nicht auf, nur weil sie nie perfekt werden kann. Der Einwand meines Freundes vermochte also nicht, meinen Positivismus zu erschüttern.
Eine andere Kritik an dieser Art Meinung, die ich hier vertrete, kam von Maximilian Steinbeis, dem Betreiber des Verfassungsblogs, in einem Editorial vom 29.05.2020 (Verfassungsblog.de – Entsetzliche Ordnung). Er schrieb dort (Auszug):
„Das Tollste am Verfassungsrecht ist vielleicht ganz generell gar nicht so sehr, was es festlegt, sondern was es offen hält. Die verfassungsrechtlich geordnete Welt ist keine Welt der Ordnung und Harmonie, sondern eine von Unvereinbarkeiten, die es durch ein prekäres Kräftefeld aus Grundrechten, Schutzpflichten, Zuständigkeiten und Verfahrensregeln in einer instabilen Balance hält: Individualität und Sozialität, Einheit und Vielfalt, Herrschaft und Bindung – ein wildes, faszinierendes, nie zur Ruhe kommendes, aber bei aller Instabilität staunenswert dauerhaftes Durcheinandergewirbel von Unvereinbarem.
Instabil macht diesen Zustand nicht zuletzt der Umstand, dass dauernd irgendwelche Mini-Carl-Schmitts in Schnürstiefeln und Uniform hereingepoltert kommen, sich breitbeinig aufpflanzen und eine Entscheidung fordern: Das geht doch nicht mit diesen Widersprüchen, was ist denn das für eine Ordnung! Da wissen wir ja gar nicht mehr, wo oben und unten ist! Entweder oder! Das muss entschieden werden! Und wenn ihr wissen wollt, wer das entscheiden soll und zu wessen Gunsten: wir hätten da gleich mal eine ziemlich konkrete Vorstellung.
Ich will mich aber nicht entscheiden müssen. Ich bestehe auf Unentschiedenheit. Ich bestehe auf dem ausgehaltenen Widerspruch, auf dem tertium datur, auf dem offenen Spannungsfeld zwischen den Polen. Denn das ist der einzige Ort, an dem ich atmen kann. Das ist kein Neutralismus und kein Fence Sitting, im Gegenteil: Ich weiß um so klarer, wofür ich kämpfe und wogegen. Gegen die Vereindeutiger nämlich. Gegen alle, die die Kompetenz-Kompetenz für sich alleine haben wollen auf welcher Seite auch immer. Gegen die, die den National-Ober gegen den Europa-Unter ausspielen wollen – oder umgekehrt.
Als jemand der diese Ordnung befürwortet bin ich offensichtlich angesprochen. Ich habe meine Karten auf den Tisch gelegt und Herr Steinbeis sieht darin das breitbeinige, uniformierte Aufpflanzen eines „Mini-Carl-Schmitts“. Autsch, das trifft. Ist was dran? Nun, nach Herrn Steinbeis ist Verfassungsrecht ein „prekäres Kräftefeld aus Grundrechten, Schutzpflichten, Zuständigkeiten und Verfahrensregeln“ in dem es als Feature, nicht als Bug, verstanden werden sollte, dass keine klare Ordnung herrscht. Bei dem was er „Grundrechte und Schutzpflichten“ nennt und womit er wohl nur Grundrechte, oder Abwehrrechte und Schutzpflichten, meint (oder ist dogmatische Ordnung bei Begriffen jetzt auch verwerflich?), stimme ich ihm zu. Das Grundgesetz schreibt nicht vor, wie genau Konflikte von grundrechtlich geschützten Interessen – und richtig verstanden hat fast jeder Konflikt grundrechtliche Relevanz auf beiden Seiten – aufzulösen sind. Das ist die Aufgabe der Legislative, nicht der Judikative. Die Judikative prüft nur, ob Unter- oder Übermaßverbot verletzt wurden und die Verletzung dieser sollte man gerade im Interesse der Ordnung (Gewaltenteilung) bitte nicht zu freimütig annehmen. Bei diesen „materiellen“ Fragen gibt es also keine feste Ordnung im Grundgesetz und dies dürften auch die meisten intuitiv für richtig halten. Der Trick von Herrn Steinbeis besteht dann darin, dass er Zuständigkeiten und Verfahrensregeln hiermit vermengt. Er nutzt die Intuition des Lesers, dass ein unklares Spannungsfeld bei Fragen nach der gerechten Abwägung zweier konkurrierender Interessen ja etwas Gutes, Liberales und irgendwie Demokratisches ist und schmuggelt Unklarheit über Zuständigkeiten und Verfahrensregeln mit hinein.
Die grundrechtlichen Konflikte werden umfassend durch einfaches Recht geregelt – und sei es zugunsten der Abwehr- und zulasten der Schutzdimension durch Abwesenheit einer Regelung. Anders gesagt: Die Rechtslage ist ihrer Konstruktion nach nie unklar, alles was verboten ist, ist geregelt, der Rest ist erlaubt. Ob Herrn Steinbeis bei dieser Rechtsklarheit noch Platz zum Atmen bleibt?
Bei Zuständigkeitsfragen ist das Offenlassen in der Verfassung allerdings nur bedingt möglich. Staatsorganisation kann durch einfaches Recht ausdifferenziert werden, die Basis hierfür muss aber die Verfassung liefern. Wie sähe denn so ein Staat, aus in dem die Staatsorganisation unklar bleibt? Herr Steinbeis hat mit dem Zaunpfahl „Carl Schmitt“ gewinkt, also lasst uns über den NS-Staat reden. Eine beliebte Fehlvorstellung über die Nazis ist es, dass sie alles bis ins letzte Detail durchgeregelt haben und sich dann an diese positiv geschaffene Ordnung inhuman akkurat gehalten wurde. Die Wahrheit sieht anders aus. Im Dritten Reich gab es nur ein Recht: Die nationalsozialistische Überzeugung. Naturrecht aus Blut und Boden, Volksgenossenschaft und Führerwille. Dies überwarf jede positiv-gesetzliche Ordnung. Zudem herrschte ein wahres Chaos an überschneidenden Zuständigkeiten zwischen Partei- und Staatsapparat. Sebastian Haffner hält diese Nichtbildung von Institutionen, das Chaos welches nur durch die Unterwerfung aller unter den Führerbefehl halbwegs gebändigt wurde, in seinen „Anmerkungen zu Hitler“ sogar für ein zentrales Charakteristikum des Hitlerismus. Dieses Chaos von Zuständigkeiten machte natürlich nicht die Schlechtigkeit des Dritten Reichs aus, es ist diesbezüglich nebensächlich. Es soll mit dem Hinweis nur gezeigt werden, dass es sich verbietet dieses Regime mit positiv-gesetzlicher Ordnung zu verbinden. Herr Steinbeis diffamiert hier ein verfassungsrechtliches Verständnis, welches meint, dass die Verfassung eine klare Ordnung geben soll (und das tut das Grundgesetz tatsächlich auch, man könnte also auch einfach von strikter Grundgesetztreue sprechen) mit Nazivergleichen. Das ist kontrafaktisch und ungehörig.
Aber mal weg vom Dritten Reich. Unklarheit in Zuständigkeiten ist natürlich nicht gleich-bedeutend mit Hitlerismus. Es sorgt allerdings für das nackte Recht des Stärkeren und allgemein für byzantinische Zustände. Prof. Degenhart hat im Interview zurecht darauf hingewiesen, dass der Bürger ein Recht darauf hat, dass ihm gegenüber genau festgelegt wird, wer welche Kompetenzen hat. Schließlich geht es bei Kompetenzen auch immer um Eingriffe gegenüber den Bürgern und diesbezügliche Unordnung schafft Raum für Willkür. In Ermangelung klarer gesetzlicher Normen entfaltet sich die normative Macht des Faktischen. Worin da der Vorteil liegen soll, bleibt auch bei Herrn Steinbeis offen. Wahrscheinlich sind es einfach nur gut klingende Worte zu einem politisch opportunen Moment. In der angeblichen Anmaßung des BVerfG, sich über den EuGH hinwegzusetzen, sehen ja viele die hässlichen Deutschen gegen die guten Europäer. Konstitutioneller Pluralismus hört sich auch so schön gut, eben pluralistisch an.
Ich bleibe also bei meiner Meinung. Beim strengen Positivismus und der Feststellung, dass nach dem Grundgesetz die Kompetenz-Kompetenz allein beim Bund liegt, Deutsche Staatsgewalt durch das Grundgesetz gebunden ist und der Staat diese Bindung auch nicht vermeiden kann, indem er durch internationale Verträge eine weitere suprastaatliche Ebene schafft, die Teile seiner Gewalt ausübt. Letzteres gilt natürlich für alle Verfassungsstaaten in allen internationalen Organisationen. Oder glaubt irgendjemand tatsächlich, dass es eine offene Rechtsfrage ist, woran sich zum Beispiel der US-Amerikanische Staat zu halten hat – und halten wird – wenn ein Urteil des Supreme Courts mit einem Urteil der WTO in Konflikt gerät?
Zum Schluss noch zwei Beobachtungen und eine Bemerkung. Wir erleben einen Streit zwischen den technokratischen Teilen der Staatsmacht im Lichte der Untätigkeit der politischen Teile. Die (technokratische) EZB hat sich während der Eurokrise in Ermangelung einer echten Reaktion der Politik vom lender of last ressort zum policymaker of last ressort fortentwickelt, dies wohl kompetenzwidrig. Dieser Kompetenzwidrigkeit hätten die aus grundgesetzlicher Perspektive zuständigen politischen Teile, Bundestag und Bundesregierung, eigentlich entgegenwirken müssen. Dies haben sie aber nicht getan, sodass sie jetzt die (technokratische) Judikative daran erinnern musste. Wirklich Folgenreiches kommt hier also vor allem von Justiz und Zentralbank, dazwischen sitzt gelähmt die Politik. Meistens übrigens in Person von Wolfgang Schäuble. Erst als Schutzpatron der Halter griechischer Staatsanleihen, ich meine Bundesfinanzminister, dann als Präsident eines Bundestages, der seiner Integrationsverantwortung nicht nachkommt.
Viele Europarechtler sind in heller Aufregung. Was, wenn jetzt alle Mitgliedsstaaten Ultra-Vires rufen und sich an EuGH-Rechtsprechung nicht gebunden fühlen? Insbesondere den Autokraten in Warschau und Budapest wäre der Rücken gestärkt. Deutschland dürfe sich keine Sonderrolle rauspicken. Sonderrolle? Selbstverständlich kann jeder Mitgliedsstaat Ultra-Vires rufen! Das war schon immer so (in Dänemark und Tschechien geschehen, in Italien fast). Die Wissenschaftler, die meinen, dass dies nicht so sei sollen bitte mal erklären, warum die angeblich mit Kompetenz-Kompetenz ausgestatte EU nur zugeschaut hat, als in Polen und Ungarn der Rechtsstaat abgeschafft wurde. Jetzt, da ich über diese angebliche Macht der EU aufgeklärt wurde, frage ich mich, warum sie ausgerechnet hier nicht genutzt wurde.
Ansonsten ist die Aufregung über das Urteil für mich politisch nachvollziehbar. Es verhindert die weitere europäische Integration, die ich mir genauso wie die meisten Kommentatoren wünsche. Aber diese Integration kann man nicht einfach herbeizaubern. Es gibt verfassungskonforme Wege, einen föderalen EU-Staat mit Kompetenz-Kompetenz zu schaffen. Warum nutzen wir diese nicht? Ich glaube die traurige Wahrheit ist, weil es dafür aktuell nicht die nötige politische Mehrheit gibt. Versuche, zumindest ein Stück weit in diese Richtung zu gehen, sind 2005 in Frankreich und den Niederlanden in Referenden gescheitert. In Deutschland ist es aktuell kein Thema in der Bundespolitik. Hiernach einfach so zu tun, als hätte die EU trotzdem eine Verfassung mit sogar mehr Rechten (nämlich echter Kompetenz-Kompetenz!) als es die damals abgelehnte Quasiverfassung vorgesehen hätte, ist dreist. Wissenschaftler, Richter und Verwaltungsbeamte sollten sich nicht die Macht anmaßen, die Verfassung von EU und Mitgliedstaaten einfach aus ihrem eigenen Willen heraus faktisch neu zu gestalten (nichts anderes ist konstitutioneller Pluralismus und EU-Monismus nämlich). Gerade in Zeiten populistischer Aufregung über die gefühlte Entfremdung der gemeinen Bevölkerung von politischen Entscheidungen ist dies nicht hilfreich. Wer sowas tut, verhält sich wie die schlechte Karikatur einer machthungrigen, überheblichen und usurpierenden Elite. Ich will die souveräne EU, aber dafür gehe ich nicht über die Leiche des Grundgesetzes.
Kommentar verfassen